Diskussion

Sigmar Gabriel, Katar und der Boykott

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Über falsche Vorwürfe und richtige Erfolge

Die Dramaturgie ist immer die gleiche: FIFA oder IOC vergeben ein großes Event – eine WM oder Olympische Spiele - an ein problematisches Land. Kommt anschließend Kritik auf, heißt es seitens der Befürworter der Vergabe: „Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen, für einen Boykott ist es nun zu spät.“ Als ob diese Menschen jemals ernsthaft über dieses Druckmittel nachgedacht hätten. 

Nun wird eine neue Erzählung aufgemacht: „Wir können durch die WM die Situation im Land nachhaltig verbessern!“ Das hat schon bei den Olympischen Sommer- und Winterspielen in Peking 2008 und 2022 nicht funktioniert. Auch nicht bei Winter-Olympia 2014 in Sotschi – einige Wochen  später hat Russland die Krim überfallen. Und es hat auch nicht bei der Fußball-WM 2018 in Russland geklappt, wo die Repression schon im Vorfeld der WM verschärft wurde. 

Katar hat sich für dieses Turnier nicht beworben, um mittels des Fußballs den Absolutismus abzuschaffen, die Rechte der Arbeitmigrant:innen zu verbessern, die repressiven Anti-LBGHTB+-Gesetze zu streichen etc. Und die FIFA hat das Turnier nicht in dieser Absicht vergeben. Das damalige Exekutivkomitee hatte mit Demokratie und Menschenrechten nichts am Hut. Dier FIFA war und ist kein Institut zur Verbreitung und Förderung der Demokratie, bei dem Autokraten und Diktatoren um Beistand bei der Demokratisierung ihrer Länder bitten.   

In so ziemlich jedem deutschen Kommunalparlament hätte mensch die Entscheidung dieses hochgradig kriminellen Gremiums, deren korruptes Zustandekommen schon wenige Monate nach der Vergabe offensichtlich war, annulliert. Es hätte Neuwahlen gegeben und einen neuen Vergabeprozess.  

Umso erstaunlicher, wie in den letzten Jahren auch einige als kritisch bekannte Geister bereit waren, einen Schlussstrich zu ziehen – „vergessen und vergeben, nun lasst uns auf die Spiele freuen!“ Die Entscheidung pro Katar war schlichtweg illegal. 

Whataboutism kontra Boykott

Den Befürworter eines Boykotts wurde vielfach mit Whataboutism begegnet, wohl gedacht als Einladung zur politischen Passivität. Wer gegen die WM in Katar sei, müsse sich auch gegen den Rest des Kommerzfußballs erheben, alles hänge mit allem zusammen. (Wer will das bestreiten? Schon Fußballprofessor Dettmar Cramer kam zu dieser Erkenntnis: „Es hängt alles irgendwo zusammen: Sie können sich am Hintern ein Haar ausreißen, dann tränt das Auge!)“ Menschenrechtsverletzungen gäbe es auch im eigenen Land usw.  

Der Whataboutism hat seit der Corona-Pandemie Hochkonjunktur. „Der Whataboutist spielt Jesus und ernennt seine Kritiker zu Pharisäern. (…) Nicht nur in Politdebatten und Talkshows erlebt der Whataboutism sein Comeback. Mittlerweile ist er auch im Internet nerviger Alltag. Wenn Whatabouisten Missstände nur noch mit anderen Missständen beantworten, bis Fakten und Meinungen durcheinander schwirren, bleibt am Ende nichts Gutes und die ganze Welt wirkt schlecht“ (Deutschlandfunk). Whataboutism soll den Gegenüber neutralisieren und zur Tatenlosigkeit verdammen.

Sigmar Gabriel und die Demokratie

Katar-Lobbyist Sigmar Gabriel, er sitzt für Katar im Aufsichtsrat der Deutschen Bank, wies darauf hin, dass Homosexualität in Deutschland bis 1994 strafbar gewesen sei und auch in Deutschland Arbeitsmigrant:innen lange Zeit schlecht behandelt wurden. (Letzteres gilt auch noch heute – mensch denke nur an die Fleischindustrie.) Allerdings mussten Homosexuelle keine Angst vor Peitschenhieben haben, und Arbeitsmigrant:innen sind nicht massenhaft gestorben. Gabriels Vergleich hinkt aber noch aus einem anderen Grund. In der Bundesrepublik gab und gibt es (noch) einen Rahmen, innerhalb dessen wir relativ gefahrlos für Veränderungen eintreten können. Beim Sozialdemokraten Gabriel scheint der „Machtwechsel“ von 1969 in Vergessenheit geraten zu sein, als – nach freien Wahlen - eine sozialliberale Koalition an die Regierung kam, die einen Liberalisierungsprozess startete.

Und was bedeuten Gabriels Aussagen für die Menschen in autokratisch oder diktatorisch regierten Ländern, die in den Genuss unserer (angeblich nicht universellen, sondern lediglich exklusiv-westlichen…) Rechte und Freiheiten kommen möchten? Vielleich dies: „Wir können ja verstehen, dass Euch nach Freiheit dürstet, nach den gleichen Rechten und Freiheiten, derer wir uns erfreuen. Aber das geht nicht so einfach! Vergesst nicht, wo ihr herkommt, wo ihr lebt! Geduld, Geduld!“ Dies wäre hochgradig arrogant und eurozentristisch. 

Relativierung von Demokratie und Menschenrechten

Die Kritik an der Forderung nach einem Boykott des Turniers mündete manchmal in einer Relativierung der Bedeutung von demokratischen Grundrechten und der universalen Gültigkeit von Menschrechten. Natürlich ist es nicht nur sympathisch, sondern auch richtig und notwendig, auf Missstände in diesem Land hinzuweisen. Die Aktivisten von #BoycottQatar2022 kommen aus der kritischen Fan-Szene und engagieren sich seit Jahren gegen den hauseigenen Rassismus, die hauseigene Homophobie, den hauseigenen Sexismus und alle Formen der hauseigenen Repression.

Wir leben in einer Welt, in der die Autokratien und Diktaturen nicht verschwunden sind und die Herausforderung durch „hybride Systeme“ stetig wächst. Gerade was letztere anbelangt: Wenn mensch die Bedeutung der hier (noch) existierenden Werte, Rechte und Freiheiten dadurch relativiert, dass er/sie suggeriert: „So groß ist der Unterschied zwischen den Verhältnissen hier und Katar doch gar nicht…“, wenn mensch die Unterschiede verwischt, kann dies gefährliche Folgen haben. Die Rechte, der wir uns hier erfreuen, hatten wir zunächst den siegreichen Alliierten zu verdanken, ihre Bewahrung und ihren Ausbau dann unseren eigenen Kämpfen. Wer die Bedeutung dieser Rechte ignoriert, wird kaum dazu in der Lage sein, sie zu verteidigen. 

Doppelmoral?

Mit dem Whataboutism verbunden ist der Vorwurf, mensch praktiziere „Doppelmoral“: Wir kritisieren Katar, beziehen aber gleichzeitig unser Gas aus dem Emirat. Erstens war dies nicht meine Entscheidung – ich war schon ein Befürworter des Ausbaues einer alternativen Energieversorgung, als CDU und Co. sich noch über Wind- und Sonnenenergie lustig machten. Zweitens: Ja, ich habe eine Gasheizung. Warum? Weil die politischen Kräfteverhältnisse leider noch dergestalt sind, dass unsere Energieversorgung in einem hohen Maße von fossilen Brennstoffen abhängt. Darf ich deshalb nicht die Verletzungen von Menschenrechten in Katar kritisieren? Darf ich dies erst dann, wenn die Photovoltaikanlage installiert ist?

In einer globalisierten Welt sind wirtschaftliche Beziehungen zu politisch problematischen Ländern grundsätzlich kaum zu vermeiden. Eine ganz andere Frage ist, ob wir diesen Ländern bereitwillig eine große Bühne (wie die WM) verschaffen, auf der sie ihr Image aufpolieren und die Missstände in ihrem Land übertünchen können. FIFA (und auch das IOC) haben - trotz aller feierlichen Erklärungen, das eigene Tun an Menschenrechtsstandards zu orientieren - damit keine Probleme. Im Gegenteil, für sie ist es ein lukratives Geschäft auf Gegenseitigkeit, bei der Menschenrechte und kritische Zivilgesellschaft manchmal eher hinderlich sind. Wenn mensch nach Doppelmoral sucht, hier ist sie. 

Eurozentrismus? 

Der Vorwurf des „Eurozentrismus“ wurde schon bei der WM 1978 vom damaligen DFB-Präsidenten Hermann Neuberger erhoben. Neuberger zur Kritik an der argentinischen Militärjunta: Das Demokratieverständnis der Südamerikaner sei mit dem Europäer nicht vergleichbar. Ohnehin müsse man „mit dem Begriff der Diktatur sehr vorsichtig“ sein, „weil wir sonst sehr viele Länder Welt als Diktatur ansprechen müssten.“ 

FIFA-Präsident war damals Joao Havelange, ein korrupter Anti-Demokrat und Kumpel südamerikanischer Diktatoren. Womit wir bei einem Dilemma des Weltfußballs und der FIFA sind: Als „Champions des globalen Südens“ gerieren sich seit Anfang der 1970er Leute, die entweder Faschisten (wie Havelange) oder Clan-Kriminelle (Blatter, Infantino) sind. 

2004 war hatte ich bei der FIFA in Neuchatel und durfte 45 Minuten mit Havelange sprechen. Er wusste, wen er vor sich hatte -  entsprechend startete der Fan von Olympia 1936 das Gespräch. Seit seiner frühesten Jugend habe er mit verschiedenen Rassen zusammengelebt und deren Mentalität kennen gelernt. In Sao Paulo und Rio gäbe es Straßen, in denen Araber auf der einen Seite und Juden auf der anderen Seite gelebt hätten – in Harmonie. 

Infantinos Brandrede vor dem Start der WM erinnerte mich an dieses Gespräch. Damals musste ich mich anschließend erst einmal schütteln. Und daran erinnern, dass ich nicht mit einem „linken Antiimperialisten“ und Kämpfer gegen den „Neokolonialismus“ gesprochen hatte, sondern mit einem zutiefst korrupten Funktionär und Freund lateinamerikanischer Diktatoren, dessen „Eine Welt-Philosophie“ mitnichten altruistisch war. 

Havelange, Blatter, Infantino: Keinem dieser FIFA-Bosse ging bzw. geht es um „Eurozentrismus“, „europäische Arroganz“ etc. Es ging und geht um Stimmen, um persönliche Macht, um Expansion und Geld. Ihre Partner in Asien, Afrika und der Karibik sind nicht progressiven Kräfte, sondern häufig ebenfalls korrupte Politiker und Fußball-Eliten. 

Was in der Tat fehlt: Eine überzeugende Antwort europäischer Verbände, die die Kritik am „Eurozentrismus“ in einer Weise kontert, dass dies auch progressive Kräfte außerhalb Europas anspricht. Was aber kein Grund ist, in die von Infantino und Katar (und den hiesigen Katar-Lobbyisten) aufgestellte „Eurozentrismus-Falle“ zu laufen. 

Im Falle von Katar „Eurozentrismus“ als mainstream der Proteste in den Kurven auszumachen, ist absurd. Wir reden über ein Land, das steinreich und im „Westen“ wirtschaftlich ein Machtfaktor. Das in Frankreich und England Luxusimmobilien im Werte von addiert 18,5 Mrd. Euro besitzt, aber nicht dazu bereit ist, den Arbeitsmigrant:innen menschenwürdige Unterkünfte zu bauen. 

Das Problem mit dem Vorwurf des Eurozentrismus‘ ist heute: Er wird zu häufig von Menschen strapaziert, für die die Menschenrechte mitnichten universal und unteilbar sind, die Autokraten und Diktatoren außerhalb Europas diesbezüglich aus der Schusslinie nehmen möchten, damit die Geschäfte mit ihnen keinen Schaden erleiden. Der Vorwurf des Eurozentrismus hat aktuell auch und gerade beim katarischen Regime und seinen europäischen Lobbyisten Konjunktur – er soll die Kritik an den Verhältnissen im Emirat delegitimieren.  

Ja, es gibt es auch eine eurozentristisch begründete  Ablehnung der WM in Katar, beispielsweise wenn das Hauptproblem des Turniers in der Jahreszeit besteht. Auch mit der Kritik am Alkoholverbot kann ich nicht viel anfangen – ein Alkoholverbot sollte mensch nicht gleichsetzen mit der Verfolgung von Lesben und Schwulen. Aber so, wie die Debatte über eine angeblich eurozentristische Ausrichtung der Boykott-Kampagne geführt wird, höhlt sie den Begriff inhaltlich aus, macht ihn unbrauchbar. In der Zeit der Friedensbewegung der 1980er Jahre habe ich häufiger deren „Eurozentrismus“ kritisiert. „Eurozentristen“ waren für mich Leute, die vor lauter Raketen und Wettrüsten in Europa die Kriege in den Ländern der sogenannten „Dritte Welt“ und die Verantwortung der „Ersten Welt“ für diese und mitmischen in diesen vernachlässigten, die Europa zum Nabel der Welt erklärten. Im Vorfeld der WM 2010 in Südafrika empfand ich als eurozentristisch, wenn behauptet wurde, der Kontinent sei noch nicht reif für das Turnier. Zur WM gab es viele Veranstaltungen, auf denen es u.a.um die Globalisierung des Spiels, FIFAcrazy, d.h. den Eingriff des Weltverbands in die Souveränität des Austragungslandes, die Ausbeutung des afrikanischen Talentereservoirs durch europäische Großklubs usw. ging.     

„Westliche Werte“

Aber handelt es sich wirklich um „Eurozentrismus“, wenn wir für Menschen Länder wie Katar die gleichen Grundrechte einklagen, derer mensch sich in der Bundesrepublik erfreut? Freie Wahlen, das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, Gleichberechtigung von Frau und Mann, Schutz vor Diskriminierung, Religionsfreit, Schutz vor körperlicher Unversehrtheit usw. 

Befürworter eines Boykotts bekamen zu hören, sie müssten auf die „kulturelle und politische Rückständigkeit“ des arabischen Raumes Rücksicht nehmen. Und: „Wir dürfen die Situation dort nicht an unseren westlichen Werten messen!“

Das Adjektiv „westlich“ wirkt in diesem Kontext denunziatorisch – und das ist wohl auch beabsichtigt. Das Recht auf geschlechtliche Gleichberechtigung – nur eine westliche Marotte? Ganz abgesehen davon, dass auch im „Westen“ sehr unterschiedliche Vorstellungen davon existieren, was die „wahren Werte“ sind – siehe Polen, Ungarn, die trumpistische Hälfte der USA usw. Wir denunzieren Werte als „westlich“, die wir gleichzeitig in Europa gegen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten verteidigen.

Um welche Werte geht es? Welche Verstöße gegen „unsere Werte“ sollen wir mit Rücksicht auf das Regime in Katar nicht so eng sehen? Und auf welche Menschen im arabischen Raum beziehen wir uns? Wir sind nicht die Anwälte der Herrschenden in Katar, die um Verständnis dafür werben, dass unsere Klienten in Sachen Menschenrechte und Demokratie „etwas“ unwillig und langsam sind. 

Handelt es sich wirklich um „Eurozentrismus“, wenn wir für Menschen Länder wie Katar die gleichen Grundrechte einklagen, derer mensch sich in der Bundesrepublik erfreut? Freie Wahlen, das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, Gleichberechtigung von Frau und Mann, Schutz vor Diskriminierung, Religionsfreit, Schutz vor körperlicher Unversehrtheit usw. 

In einem Kommentar für die „Frankfurter Rundschau“ zu den Protesten im Iran zitiert Annette Kahane eine iranische Gesprächspartnerin. Diese sagte ihr, „sie sei es leid, als tapfer tituliert zu werden. Das klänge so niedlich. Die Frauen im Iran, Kurdistan, in der gesamten Region verdienten solche Worte der Herablassung nicht. Emanzipation, Demokratie und Freiheit seien keine romantischen westlichen oder eurozentrischen Werte, sondern das, was die Menschen im Iran brauchen. Ganz genauso wie die Menschen in den liberalen Demokratien des Westens.“

Autokraten auf dem Sofa

Währenddessen benimmt sich das katarische Regime wie ein Kleinkind auf dem Spielplatz, wenn es darüber klagt, dass es in anderen Länder doch noch schlimmer zugehen würde, dass Russland 2018 nicht so vehement kritisiert wurde etc. Ein Regime, das Arbeitsmigrant:innen brutal ausbeutet und Frauen sowie der LBGTQ+-Community die elementarsten Grundrechte verweigert, fühlt sich nicht fair behandelt. Ganz unangenehm: Von Moskau bis Doha - in den letzten Jahren ist es zur Mode geworden, sich in Autokraten „einzufühlen“. Sie müssten ihr Gesicht wahren dürfen, mensch dürfe sie nicht demütigen. Bei zu viel Kritik aus Europa drohe die Gefahr von Rückschlägen beim Reformprozess. Auf einer Veranstaltung in Oldenburg warnte Sylvia Schenk, Sportbeauftragte von Transperency Intzernational (wieso eigentlich?), zu viel Druck in Sachen LBGTQ+-Rechte könnte zu einerr verschärften Repression gegen queere Menschen führen…Sorry, aber seit wann regiert #BoycottQatar2022“ im Emirat? Sind Autokraten nur fehlgeleitete Kinder? Dies ist ein Ansatz, der zutiefst unpolitisch ist, der ignoriert, dass es um Herrschaftsverhältnisse geht. Autokraten sind keine Menschen, die nur einfach nicht wissen, wie Demokratie geht, die – bedingt durch Geographie und Sozialisation – etwas rückständig sind, die lediglich einer pädagogischen Betreuung bedürfen.  

Rassismus

Last and least der jüngst vom Regime strapazierte Rassismus-Vorwurf. Strapaziert von einem Regime, das über einer zutiefst rassistischen Kastengesellschaft thront. Nicht das Regime ist Opfer von Rassismus, auch nicht die ca. 350.000 alimentierten Staatsbürger. Opfer von Rassismus sind die über 2 Mio. Arbeitsmigrant:innen. Auch hier wird noch nach rassistischen Kriterien selektiert. Der aus Europa stammende Ingenieur wird natürlich besser behandelt als der aus Nepal stammende Bauarbeiter.

Apropos Nepal: Häufig bekommen wir zu hören, dass es dem aus Nepal stammenden Migranten daheim schlechter ergehen würde als in Katar. Dass er und seine Familie auf den Job auf der Baustelle angewiesen sei. Wir müssten deshalb bei der Situation in den Herkunftsländern ansetzen.  Alles richtig, aber was heißt das? Doch nur, dass Katar das Elend dieser Menschen gnadenlos ausbeutet. Ein Staat, der in England und Frankreich addiert Luxusimmobilien im Wert von 18,5 Mrd. Euro besitzt, ist nicht dazu in der Lage, den Arbeiter:innen vernünftige Unterkünfte zu bauen und aus der „Kette“ auszuscheren? Auch hier leider wieder etwas zu viel des Whataboutism.

Interessant, wo der Vorwurf des Rassismus seinen Ursprung nahm. 2013 beauftragte das Emirat die US-Sicherheitsagentur Global Risk Advisors mit der Ausspionierung und Denunzierung der Kritiker einer WM in Katar. In einem Papier nennt die Agentur als Ziel ihrer Operation die „totale Penetration“ des Diskurses über Katar. Laut „Spiegel“ war zuvor war schon die angloamerikanische PR-Agentur Brown Lloyd James am Werke. Ein Chef dieser schlug Turnierdirektor Nasser Al Khater vor, den Sportsoziologen Gunter Gebauer „unerbittlich zu diskreditieren“. Dafür solle man deutsche Journalisten und Blogger rekrutieren, die seine Äußerungen als islamfeindlich und rassistisch hinstellen. Das sei etwas, „auf das die Deutschen SEHR empfindlich reagieren.“   

Ein erstes Resumee

Erst als die Forderung nach Boykott im Raum stand, gewann die Diskussion über die WM in Katar an Fahrt und Schwung. Die Forderung nach einem Boykott zwang zu aktiver Aufklärungsarbeit und war mit Sonntagsreden nicht vereinbar. Sie führte zu einer lebhaften und breiten Diskussion über den Zusammenhang von Menschenrechten und Fußball, über Werte und Haltung in diesem Spiel, über den richtigen Umgang mit dem Vormarsch autokratischer und diktatorischer Regime, um die FIFA und die Entwicklung des Weltfußballs allgemein. Landauf und landab fanden und finden zahlreiche Veranstaltungen statt, bei denen es nie nur um die Zustände im Austragungsland Katar geht.

Ohne die „provokative“ Boykott-Forderung hätte sich die hiesige Diskussion über die WM in landeskundlichen Betrachtungen und einigen klugen Aufsätzen erschöpft.    

An den letzten drei Spieltagen vor der WM-Pause gab es kaum ein Stadion im hiesigen Profifußball, in dem nicht gegen die WM und ihre Macher demonstriert wurde. Vorausgegangen war ein entsprechender Aufruf von #BoycottQatar2022, aber zumindest an einigen Orten wurden die oft sehr aufwändigen Aktionen wohl schon früher und unabhängig von uns geplant. Unterm Strich stand die wohl größte Kundgebung pro Menschenrechte, die der deutsche Fußball jemals gesehen hat.

Und nach dem Start der WM wird es weitergehen.


Dietrich Schulze-Marmeling

Licht ins Dunkel

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Anmerkungen zur Diskussion um die Boykott-Forderung

 

 Die Frankfurter Rundschau (Ausgabe v. 24. März 2022) berichtete von einem virtuellen Pressegespräch des Vereins Frankfurter Sportpresse mit Sylvia Schenk. 

Sylvia Schenk ist eine ehemalige Leichtathletin. Von 2001 bis 2004 saß sie dem Bund Deutscher Radfahrer vor, seit 2014 leitet sie bei Transparency International Deutschland die Arbeitsgruppe Sport. Von 2007 bis 2010 war Schenk Vorsitzende der Organisation. Unsereins ist die Juristin auch als mutige und entschlossene Kämpferin gegen das Doping in Erinnerung. 

Der Artikel - Überschrift: „Erhellende Zwischentöne“ – drehte sich vor allem um Schenks Ablehnung eines Boykotts der WM in Katar. Ihre Ausführungen sind exemplarische für den Kurs, mit dem die Auseinandersetzung mit der Kampagne geführt wird. Deshalb die folgenden Anmerkungen.

Dass Schenk einen Boykott ablehnt, ist erst einmal in Ordnung. Mensch kann trotzdem eine kritische Haltung gegenüber den Verhältnissen im Austragungsland einnehmen. Aktuell geht die Kritik am Boykott aber häufig mit einer Beschönigung der Verhältnisse in Katar und Relativierung der Bedeutung von Menschenrechten einher. Geht es nicht auch anders?

Laut Schenk bringt ein Boykott „kein Licht ins Dunkel der Menschenrechtsverletzungen“. Klingt poetisch, ist aber blanker Unsinn. Wer Boykott ruft, muss erklären, warum er das tut, muss über die Verhältnisse im Austragungsland aufklären. Und bringt dadurch reichlich Licht ins Dunkel der Menschenrechte. 

Hätte Sylvia Schenk über das Thema Katar geredet, hätten die teilnehmenden Journalisten mit ihr ausführlich darüber diskutiert, wenn nicht in den letzten Wochen die Forderung nach einem Boykott leichte Wellen geschlagen hätte? Die Frankfurter Rundschau schreibt jedenfalls: „Natürlich kommt Schenk in ihrem Vortrag auch irgendwann auch zum Thema Fußball-WM 2022 in Katar, auch die anschließende Diskussion mit mehr als zwei Dutzend Journalisten aus ganz Deutschland dreht sich darum. Mit Hinweis auf die Menschenrechtsverletzungen am Persischen Golf hatte es zuletzt ja immer lauter werdende Boykottforderungen für das Turnier gegeben.“ 

Ein „rückständiges Land“?

Laut Schenk ist Katar noch ein „rückständiges Land“. Eine nette Beschreibung für die dortigen Verhältnisse. Bei „rückständig“ assoziieren wir einen Bauern aus dem tiefsten Niederbayern (sorry!) ohne Internetanschluss - nicht ein Regime, das Homosexualität mit bis zu fünf Jahren Haft und Peitschenschieben bestraft, das vergewaltigte Frauen des Ehebruchs anklagt, das islamistischen und judenfeindlichen Terror finanziert, in dem der Wechsel der Religion ein Kapitalverbrechen ist, das in seinen Schulbüchern Antisemitismus verbreitet, das Exporteur einer extrem reaktionären Interpretation des Islams ist. 

Okay - Sylvia Schenk meint: „Ein rückständiges Land aus europäischer Perspektive.“ Was soll das denn heißen? Dass die Menschenrechte für weiße Europäer reserviert sind? Dass wir es mit den Menschenrechten übertreiben? Klingt stark nach Kalle Rummenigge, der die Menschenrechtsverletzungen in Katar mit einem Verweis auf die „andere Kultur und Religion“ des Landes abhakt. Der Verweis auf die „europäischer Perspektive“ wird auch von den Herrschenden in diesen Ländern gerne strapaziert. Müssen wir da mitmachen? Wir dachten: Die Menschenrechte sind unteilbar. Und wir dachten: Menschenrechte sollten wir nicht relativieren. Oder doch? Sollen wir die diktatorischen Verhältnisse in der VR China also nicht kritisieren, weil das Land über keine demokratische „Kultur und Tradition“ verfügt? Oder, auf uns Deutsche selbst bezogen: Sollen wir zum Antisemitismus im Land schweigen, weil er hier nun mal eine jahrhundertealte Tradition und auch religiöse Wurzeln hat? 

Sylvia Schenk fordert, sich „freizumachen von Einzelfällen.“ Was heiß das? Der Fußballer, dem jahrelang die Ausreise verweigert wird wie dem Franzosen Zahir Belouni – kein Thema? Der Student, der wegen eines blasphemischen Gedichts bzw. einer „Beleidigung des Emirs“ zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteil wird – kein Thema? Die „Einzelfälle“ wird so viel Anteilnahme aus Europa freuen. Möchte Sylvia Schenk, dass wir das mit den Menschenrechten nicht so eng sehen? 

Natürlich ist es richtig, dass es überall auf der Welt, auch in den relativ demokratischsten Gesellschaften, Diskriminierungen gibt, sicher auch „Einzelfälle“ von staatlicher Willkür. Aber die Frage ist doch, ob es sich dabei um ein staatlich legitimiertes oder gar staatlich betriebenes System der Diskriminierung und Unterdrückung handelt oder nicht. In Katar ist es eindeutig. Viele der Menschenrechtsverletzungen sind sogar gesetzlich fixiert, wie das Verbot von Homosexualität.

6.500 Tote sind zu interpretieren

Sylvia Schenk arbeitet sich an einer Meldung des Guardian ab, die in der Tat nicht nur die WM-Baustellen betraf. Was dann aber folgt, grenzt an Zynismus. Sylvia Schenk fehlen die Hintergründe zum Tod der 6.500. Leider spricht sie nicht darüber, warum dies so ist. Nämlich mangelhafte Transparenz, eigentlich Schenks Thema. Nicholas McGeehan, Direktor der Menschenrechtsorganisation Faire Square und zuvor bei Human Rights Watch für die Golf-Region verantwortlich: „Katar hat seit 2012 keine Statistiken mehr über die Zahl toter Arbeiter veröffentlicht.“ Die Zahl der ungeklärten Todesfälle mache etwa 75 Prozent aller Toten aus. McGeehan weiter: „Die katarischen Totenscheine listen die Todesursache meist als ‚natürliche Ursachen‘ oder ‚Herzstillstand‘ auf, was keine Todesursachen sind. Und wenn ein Tod ungeklärt ist, gibt es keine Entschädigung und keine Antworten für die Familien - weder eine Autopsie noch eine Untersuchung. Sie geben die Statistiken nicht heraus, weil sie wissen, was die Statistiken sagen.“

Natürlich ist es notwendig und richtig, Meldungen zu überprüfen und gegebenenfalls richtigzustellen. (Wobei zur Wahrheit auch gehört: Die Zahl, die der Guardian nennt, ist nach seinen eigenen Angaben noch zu niedrig, weil er nicht in allen Herkunftsländern Statistiken auswerten konnte.) Aber so, wie die Zweifel hier formuliert werden, relativieren sie die elenden Arbeitsbedingungen und die menschenunwürdigen Unterkünfte, die ganz zwangsläufig zu hohe Todesraten führen. 

Noch wichtiger ist: Dass sich die Diskussion aktuell auf die WM-Baustellen fokussiert, wo lediglich zwei Prozent der Arbeitsmigrant*innen beschäftigt sind, ist von der FIFA durchaus gewollt. Mag sein, dass sich dort die Bedingungen für die Arbeiter verbessert haben. Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Berichte. Amnesty International meldete vor einigen Tagen, Katar habe zwar in den letzten Jahren eine Reihe positiver Reformen durchgeführt, zum Teil als Reaktion auf die verstärkte Kontrolle nach der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft – „aber zu oft werden diese nicht richtig umgesetzt. Tausende von Arbeitsmigranten werden weiterhin ausgebeutet und missbraucht. Die Vorschläge, die von Katars beratendem Shura-Rat debattiert würden, würden „einen Großteil des Fortschritts, den die Reformen gebracht haben, wieder zunichte machen, unter anderem durch die erneute Einschränkung der Rechte, den Arbeitsplatz zu wechseln und das Land zu verlassen".

Eine Verbesserung der Situation auf den WM-Baustellen sollte nicht schwierig sein. Allerdings hat sich die FIFA diesen erst gewidmet, nachdem einige NGOs entsprechenden Druck ausübten. Wir gehen davon aus, dass ein wesentlicher Teil der Bauarbeiten bereits abgeschlossen ist. Für die FIFA dürfte die Angelegenheit damit erledigt sein.

Die schöne Fassade zählt

Im „Bekenntnis der FIFA zu den Menschenrechten“ vom Mai 2017 heißt es: „Die FIFA ist zudem bestrebt, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte, die über ihre Geschäfts-beziehungen einen direkten Bezug zu ihren Tätigkeiten, Produkten oder Dienstleistungen haben, zu vermeiden oder einzudämmen.“ Daraus erklärt sich die Fixierung des FIFA-„Dialogs“ auf die WM-Baustellen: Nur dort, wo die FIFA durch die WM-Vergabe unmittelbarer Auslöser für Menschenrechtsverletzungen ist, sieht sie sich (wenn überhaupt) gefordert. Alles andere interessiert sie nicht.

Das ist die Sichtweise des ignoranten europäischen Urlaubers, eine „Politik der Ferienanlage“: Mich soll lediglich interessieren, ob mein Ferienhäuschen sauber gebaut wurde und ob ich mich für die Dauer meines Aufenthalts einigermaßen frei bewegen kann. Also beispielsweise im Stadion die Regenbogenfahne schwingen darf, was während der WM angeblich erlaubt sein soll. Dass die weitaus meisten Arbeitsmigrant*innen weiterhin in sklavenähnlichen Verhältnissen schuften, dass die Repression gegen Schwule und Lesben weitergeht, hat mich nicht zu interessieren. Ich soll nur die freundliche Fassade sehen, die das katarische Regime vier Wochen lang seinem Land verordnet. 

Die Art und Weise, wie die FIFA ihr „Bekenntnis zu den Menschenrechten“ abgefasst hat, bedeutet letztlich, dass sie mit jeder Diktatur ins Geschäft kommen kann. Solange diese zu gewissen Kompromissen während der Veranstaltung bereit ist. Das gelang 1936 sogar den Nazis. Unsere Sichtweise muss über den unmittelbaren Kontext des WM-Turniers hinausgehen. Auch zeitlich sind Menschenrechte unteilbar. Eine Diktatur, die lediglich für vier Wochen ein freundliches Gesicht zeigt, bleibt eine Diktatur und sollte kein WM-Gastgeber sein. 

Sturm säen…

Ein Wort noch zu dem Argument, ein Boykott der WM gefährde die Möglichkeit, in einem problematischen Gastgeberland Gutes zu erreichen. Weil die internationale Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird. Mal abgesehen davon, dass dies historisch – von Berlin 1936 bis Russland 2018 – noch niemals gelungen ist. Aber es steckt auch eine seltsame Logik darin. Denn dann wäre es nur folgerichtig, solche großen Turniere nicht in ausgewiesenen Demokratien stattfinden zu lassen, sondern in Diktaturen. Denn sonst werden die dort unterdrückten Menschen im Stich gelassen. So gesehen, wäre die Entscheidung pro Katar also genau die richtige. Und in nicht zu ferner Zukunft sollte auch Nordkorea an der Reihe sein.

Unsere Logik ist eine andere: Der kleine Sturm, den die Boykott-Forderung ausgelöst hat, hat schon jetzt etwas „Licht ins Dunkel der Menschenrechtsverletzungen“ gebracht. Nach jahrelangem Schweigen redet mensch darüber, jedenfalls deutlich mehr, als in den Jahren zuvor. Dass Norwegens Nationalmannschaft und die DFB-Elf ihre WM-Qualifikationsspiele für ein Bekenntnis zu den Menschenrechten nutzen, war sicherlich kein Zufall, sondern auch der Boykott-Debatte der letzten Wochen geschuldet. 

Wie gesagt: Es ist völlig in Ordnung, wenn mensch die Methode des Boykotts ablehnt – nur sollte man dabei nicht in eine Beschönigung der Verhältnisse in Katar und in eine Relativierung der Bedeutung von Menschenrechten abrutschen. So macht man sich ungewollt zum Lobbyisten von Potentaten und der FIFA. Und bei Zahlenspielen, wie sie kürzlich in der Zeit bezüglich der Einordnung der Zahl der verstorbenen Arbeitsmigrant*innen betrieben wurden, sollten wir nicht vergessen, dass „Menschenrechte selbstverständlich mehr als mathematische Gleichungen mit Todeszahlen bedeuten. Für Homosexuelle zum Beispiel ist die Situation in einem Land wie Katar nach wie vor verheerend.“ (Jakob Böllhoff in der Frankfurter Rundschau).

Sylvia Schenk möchte, dass wir die Strahlkraft des Sports nutzen, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Nichts anderes tun wir. Sylvia Schenk hat bei ihrem Pressegespräch diese Möglichkeit verpasst.

 

Bernd Beyer / Dietrich Schulze-Marmeling

Vor zehn Jahren …

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... fiel die Entscheidung, die WM 2022 nach Katar zu vergeben. Damals dachten wir: Es kann nicht wahr sein und wird nicht Bestand haben. Wir haben uns geirrt, trotz allem, was seither aufgedeckt wurde: über die elenden Arbeitsbedingungen und Menschenrechte in Katar, über die Korruption, die die Vergabe begleitete. All dies liest sich sehr treffend in einem Artikel, den Andreas Rüttenauer, Sportredakteur der „tageszeitung“ (taz), am Samstag (28.11.2020) dort veröffentlicht hat. Dabei hat er auch ausführlich unsere Initiative vorgestellt.

Der Dammbruch

Vor zehn Jahren ist die Fußball-WM 2022 nach Katar vergeben worden. Es war ein Schock. Doch die Fifa kuschelt trotz aller Skandale immer intensiver mit dem Emirat. Eine Initiative macht sich jetzt für einen Fanboykott stark.

Es war ein Donnerstagnachmittag Anfang Dezember. In Zürich ist das Exekutivkomitee des Internationalen Fußballverbands zusammengekommen. Es ging um die Vergabe der Weltmeisterschaften für die Jahre 2018 und 2022. Zunächst bekam Russland den Zuschlag für 2018. Dann, um 16.43 Uhr, öffnete Joseph Sepp Blatter, damals Präsident der Fifa, das Kuvert, in dem man nach der Abstimmung unter den Fifa-Oberen den Namen des Ausrichterlands für das WM-Turnier 2022 gepackt hatte: Katar. Im vierten Wahlgang hatte sich das Emirat mit 14:8 Stimmen gegen Mitbewerber USA durchgesetzt. Es war ein Schock, von dem sich bis heute viele Freunde des Fußballspiels nicht erholt haben. Katar! Fifa war schon länger ein Synonym für Korruption. Und doch wurde die Entscheidung als Dammbruch gelesen. Am 2. Dezember jährt sich die Entscheidung, mit der sich der professionelle Männerfußball endgültig von seinen Fans entfernt hat, zum zehnten Mal.

„Fassungslos“ sei er gewesen, erinnert sich Bernd Beyer an den Tag der Entscheidung. Aber so richtig glauben konnte der Fußballpublizist nicht, was da entschieden worden war. „Ich habe gehofft, dass das nicht Bestand hat“, sagt er. Damit war er damals gewiss nicht allein. Heute weiß er, dass die WM durch nichts aufzuhalten ist. Sie wird stattfinden. Am 21. November 2022 wird das Eröffnungsspiel stattfinden. Dennoch hat Beyer gemeinsam mit seinem Kollegen und Leibesübungen-Autor Dietrich Schulze-Marmeling eine Initiative gestartet, die sich „Boycott Qatar“ nennt. Angesprochen sind die Anhänger des Fußballsports. Sie sind aufgerufen, dem Turnier so wenig Aufmerksamkeit zu schenken wie möglich. Sie sollen durch einen Boykott von Produkten der großen Fifa-Sponsoren dazu beitragen, dass das Engagement von Firmen wie Adidas, Sony oder McDonald’s keinen Imagegewinn für die Konzerne darstellt.

Noch hat sich die Initiative der zwei Autoren nicht zu einer Bewegung ausgewachsen. Doch Beyer rechnet für die zwei Jahre bis zum Turnier mit zunehmendem Protest gegen die Fifa-Veranstaltung. Es gebe bereits viele Rückmeldungen aus den aktiven Fanszenen der Klubs. Die Schalker Fan-Initiative gehört schon jetzt zu den Unter­stüt­ze­r:in­nen von Boycott Qatar. Es werden weitere folgen, da ist sich Beyer sicher. Er jedenfalls kennt keinen Fußballfan, der sich auf Katar freut. Er kann sich auch nicht vorstellen, dass in Katar 2022 funktioniert, was in Russland im Sommer 2018 im Sinne der Fifa so schön geklappt hat. Die Bilder von gemeinsam feiernden Fans aus Russland aus aller Welt sind damals um die Welt gegangen und haben das negative Bild des WM-Gastgebers, das vor dem Turnier gezeichnet wurde, ins Positive verkehrt. In Katar werde es solche Bilder nicht geben. Schon mit dem gemeinsamen Biertrinken wird es im wahhabitischen Emirat wohl nichts werden.

In den letzten acht Jahren, so Beyer, habe man viel ­­gelernt über Katar. Nichts davon sei dazu angetan, das Land als geeigneten Gastgeber für den Fansport Fußball zu beschreiben. Als die Entscheidung für Katar vor zehn Jahren fiel, ging es zunächst um Geografie. Schnell lernte die deutsche Öffentlichkeit, dass der Kleinstaat am Persischen Golf nur halb so groß wie Hessen ist. Das Turnier war damals für den Sommer geplant. In der Bewerbung hieß es, klimatisierte Stadien würden eine Austragung der WM auch bei Temperaturen von weit über 40 Grad, wie sie im Sommer am Golf üblich sind, möglich machen. Doch das Versprechen war nicht mehr als eine Behauptung. Auch das lernten die Fans mit den Jahren. Im Februar 2015 entschied die Fifa, das Turnier in die Wintermonate zu v­erlegen.

Da war längst bekannt, mit welchem Regime man es in Katar zu tun hat. Auch die Fifa wusste, was sie tat. Sepp Blatter witzelte nach der WM-Vergabe und sagte über die religiös begründete Gesetzgebung Katars, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, angesprochen auf homosexuelle WM-Touristen: „Ich denke, sie sollten bei der WM jegliche sexuellen Aktivitäten unterlassen.“ Dafür musste er sich allerdings entschuldigen. Dass die Fifa mit der Entscheidung für Katar indirekt auch beschlossen hat, schwule und lesbische Fans vom Turnier auszuschließen, konnte er jedoch nicht abstreiten.

Schnell wurde noch ein weiteres katarisches Phänomen bekannt. Das Wort „Kafala“ machte die Runde. Es beschreibt ein System der Abhängigkeit von Beschäftigten von ihren Arbeitgebern. Vor allem Arbeit­neh­me­r:innen aus dem Ausland wurden in Katar so regelrecht versklavt. Bauarbeiter und Hausangestellte verloren ihre Freiheit, weil sie ihren Arbeitgebern die Pässe auszuhändigen hatten. Gegen das Ausbleiben von Lohnzahlungen waren sie ebenso machtlos wie gegen ausbeuterisches Verhalten ihrer Vorgesetzten. Dass das sehr wohl etwas mit dem Fußball zu tun hat, wurde schon bald nach dem Votum für Katar bekannt. Der französische Fußballprofi Zahir Belounis, der für den katarischen Militärklub al-Jaish gespielt hat, befand sich seit 2009 im Streit mit seinem Verein über Zahlungsrückstände, nachdem man ihn gegen seinen Willen zu einem anderen Klub verschoben hatte.

Am Ende wollte er nur noch weg. Doch er konnte nicht ausreisen, weil es dazu der Genehmigung seines Arbeitgebers bedurft hätte. Belounis trat in Hungerstreik, wandte sich in offenen Briefen an die Fifa und an WM-Botschafter Pep Guardiola. Erst 2013 gestattete man ihm die Ausreise. Kurz zuvor hatte Franz Beckenbauer, der in der Fifa-­Exekutive saß, als die WM 2022 vergeben wurde, gesagt, er habe noch nie einen Sklaven in Katar gesehen. Über die Arbeitsbedingungen der Arbeitsmigranten in Katar hatte er sich wohl nicht informiert. Dass sich das Regime sogar Fußballsklaven hielt, hat ihn ebenso wenig aufgebracht wie die Fifa-Oberen, die die Katarer zu ein paar Versprechen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Land bewegen wollten. Doch viel verändert hat sich nicht. Als die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Sommer 2020 feststellte, dass Lohnzahlungen immer noch regelmäßig ausblieben, dass Beschäftigte sogar Hunger leiden müssen, weil sie nicht bezahlt werden, gab Katar wieder ein Versprechen zur Verbesserung der Lage ab. Die Arbeitsgesetzgebung wurde verändert, Mindestlöhne wurden definiert und Strafen für das Verweigern von Lohnzahlungen eingeführt.

All das zeigt den autoritären Charakter des Emirats. Für den Boykottaktivisten Bernd Beyer reiht sich das Votum für Katar deswegen nahtlos in eine Serie anderer Entscheidungen über die Vergabe von Großereignissen ein. „Es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Sportorganisationen gerne mit Staaten zusammenarbeiten, die die Auflagen, die mit Großereignissen ja immer einhergehen, einfach autoritär durchsetzen.“ Und mit Katar arbeitet die Fifa besonders gerne zusammen. Die Klub-WM, die gerade in den Februar verschoben wurde, findet im Golfstaat statt. Und in dieser Woche hat die Fifa dem Emirat ein neues Schmankerl serviert. Der Fifa Arab Cup mit Mannschaften aus 22 arabischen Staaten von Palästina über Ägypten und Saudi-Arabien bis Mauretanien wird im Dezember 2021 in Katar ausgespielt.

Ausgerechnet der Golfstaat, von dem aus die Korruption im Weltfußball in eine neue Dimension geführt wurde, ist zum Lieblingsland der Fifa unter Gian­ni Infantino, dem Nachfolger von Sepp Blatter an der Verbandsspitze, geworden. Dass der langjährige Chef des katarischen Fußballverbands, Mohamed bin Hammam, der große Strippenzieher hinter der WM-Bewerbung Katars, von der Fifa selbst wegen Korruption lebenslang gesperrt wurde, interessiert längst nicht mehr. Dass die mittlerweile Legende gewordenen 6,7 Millionen Euro, die der DFB zur Zeit des Rennens um die WM-Vergabe für 2006 über ein Konto von Franz Beckenbauer auf ein Bankkonto in Zürich überwiesen hat, letztlich auf einem Konto von bin Hammam in Katar landeten, stört sowieso schon lange niemanden mehr im Weltfußball. Am Ende der von der Fifa selbst ausgerufen Reinigung nach der Ära Blatter ist der größte Profiteur des Wandels ausgerechnet Katar.

Verstehen will das niemand, meint auch Bernd Beyer, dessen Boykottanliegen gut zu den Faninitiativen in Deutschland passt, die sich für ein Umdenken im Fußballbusiness einsetzen und verhindern wollen, dass sich der Profifußball weiter von der Basis und seinen Fans entfernt. Vor diesem Hintergrund wirken die Statements, die die gut bezahlten WM-Botschafter Katars zu Werbezwecken immer wieder abgeben, weltfremd und abgehoben. Jüngstes Beispiel dafür ist der ehemalige kamerunische Starstürmer Samuel Eto’o. „Katar 2022 wird ein ganz spezielles Erlebnis für die Fußballfans“, lässt er sich auf der Website der WM 2022 zitieren. Was er damit meint? „Manchmal gehe ich einfach in die Villaggio Mall, dann genieße ich einen Besuch im Katara Cultural Village, wo es viele Shops und Restaurants gibt.“ Besser kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass man den Fußballfan vor allem als Kunden sieht.


Wann ist ein Boykott sinnvoll?

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Die beiden größten Boykott-Aktionen in der Geschichte des internationalen Sports waren leider höchst unsportlich – nämlich jene, die 1980 und 1984 im Zeichen des Kalten Krieges stattfanden. Dass sowjetische Soldaten in den afghanischen Bürgerkrieg eingriffen, warf sicherlich einen dunklen Schatten auf die Olympischen Sommerspiele in Moskau. Doch dass ausgerechnet die USA eine Boykottaktion der westlichen Staaten initiierten, besitzt eine makabre Komponente. Schließlich hatten sie nur fünf Jahre zuvor mit dem Vietnamkrieg einen vergleichbaren und noch blutigeren und längeren Krieg beendet. Dass dann vier Jahre später die Sowjetunion (plus Verbündete) die Spiele in Los Angeles boykottierte, war nicht mehr als eine lausig begründete Retourkutsche. In beiden Fällen wurde die Waffe des Boykotts für zweifelhafte politische Scharmützel benutzt und dem Sport und seinen Athlet/innen damit schwer geschadet.

Die Versuche von NGO’s und sonstigen Protestbewegungen, die Austragung von olympischen oder WM-Turnieren zu boykottieren, sind samt und sonders gescheitert. Jedenfalls in dem Sinne, dass die Veranstaltungen nicht verhindert werden konnten. Vielleicht war das oft auch nur das erklärte, nicht aber das wichtigste Ziel der jeweiligen Initiatoren. Es ist zu vermuten, dass sie vor allem erreichen wollten, dass die politischen Ziele ihrer Aktion stärkere öffentliche Beachtung finden.

Dass dies gelingen kann, zeigt ein Blick auf die Proteste gegen das WM-Turnier 1978 in Argentinien, bei denen erreicht wurde, dass die Brutalität der argentinischen Militärjunta sicherlich viel stärker in den öffentlichen Fokus gerückt wurde, als dies ohne die Protestbewegung geschehen wäre. Bis heute verzichtet kein historischer Rückblick auf der 1978er Turnier darauf, die Diktatur zu thematisieren, oft steht dieser Aspekt sogar im Vordergrund. Die Intention der Junta wie auch der FIFA, koste was es wolle, ein „schönes“ Turnier durchzuführen und die Welt damit zu beeindrucken, konnte in der historischen Rückschau recht erfolgreich durchkreuzt werden.

Was es dagegen noch nicht gegeben hat, ist der Boykott eines Sportereignisses aus einem Grund, der primär – oder jedenfalls wesentlich – beim Veranstalter selbst zu suchen ist, also hier: beim IOC oder der FIFA. Kritik an diesen Dachorganisationen gibt es reichlich, zu einer öffentlich wahrnehmbaren Protestbewegung z.B. im Rahmen von Sportereignissen ist es aber bisher nicht gekommen.

Aus welchem Anlass, ab welchem Punkt es sinnvoll erscheint, nicht bei kritischer Kommentierung stehen zu bleiben, sondern eine Boykott-Bewegung ins Leben zu rufen, will der folgende Beitrag untersuchen.

 

Kriterien für einen Boykott

Die historischen Beispiele 2000 Sydney und 2010 Vancouver zeigen, dass es im jeweiligen Austragungsland spezielle Gründe für Proteste gegen Olympia bzw. eine WM geben kann – meist sind sie sozialer oder ökologischer Natur. Ähnliches gilt für Proteste, die sich bereits bei der Bewerbung von Städten oder Staaten für solch ein Ereignis herausbilden – wie beispielsweise bei Berlins Bewerbung für 2000 oder Hamburgs Bewerbung für 2024. 

Da Großveranstaltungen wie Olympia oder Fußball-WM zumindest bisher grundsätzlich mit erheblichen ökologischen Belastungen verbunden waren (schon durch das zusätzliche Verkehrsaufkommen) und zudem die öffentlichen Finanzen stark strapazieren, sind Kriterien darüber, wann hier eine „Grenze“ erreicht ist und eine internationale Protest-/Boykottbewegung sinnvoll ist, schwer zu finden. Es hängt nicht unerheblich davon ab, welche Breite eine solche Bewegung im Gastgeberland erreicht hat. Die „Anti-Olympic Alliance“ 2000 in Australien hätte es jedenfalls verdient gehabt, deutlich mehr internationalen Widerhall zu finden.

Andererseits muss man sehen, dass es wohl kein Land auf der Welt gibt, in dem ideale Zustände in puncto Sozialstaat, Ökologie oder Demokratie herrschen, in dem die Menschenrechte ohne faktische Einschränkungen garantiert sind und in dem nicht Streitkräfte oder Rüstungsbetriebe existieren, die in zweifelhaften Kriegen eingesetzt werden. Wollte man mit dieser Blaupause filtern, so würde sich kaum ein Land finden, dem man eine WM oder Olympische Spiele guten Gewissens übertragen könnte.

Eine Boykott-Aktion gegen ein bestimmtes Gastland erfordert eine deutliche Ächtung dieses Landes und setzt daher voraus, dass überzeugende Gründe für eine solche Ächtung existieren.

 

1. Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen

Internationaler Sportturniere beanspruchen für sich, der „Völkerverständigung“ zu dienen. Damit unvereinbar ist die Gastgeberrolle eines Landes, das (aktuell oder in jüngster Vergangenheit) an einem völkerrechtswidrigen Krieg teilgenommen oder ihn unterstützt hat.

So jedenfalls argumentiert Glenn Jäger an, Autor des aufschlussreichen Buches „In den Sand gesetzt. Katar, die FIFA und die Fußball-WM 2022“. Für ihn ist mit diesem Kriterium Katar aus dem Rennen, weil es sich bis 2017 am Krieg im Jemen und bis heute an den Krieg in Syrien und Libyen beteiligt hat (bzw. dort agierende Islamisten unterstützt). Als Gastgeber wären demnach generell alle Staaten ausgeschieden, die an den Kriegen in Jugoslawien, Syrien, Libyen oder Afghanistan teilgenommen haben oder noch teilnehmen. Aus diesem Grund hätte – Jäger zufolge – eine WM 2006 in Deutschland nicht stattfinden dürfen, ebenso wenig in naher Zukunft eine WM in den USA.

Seltsamerweise stört sich Jäger allerdings nicht an einem Gastgeber Russland, dessen Annexion der Krim und dessen Beteiligung am Krieg in Syrien er offensichtlich nicht als völkerrechtswidrig ansieht. Schon daraus wird deutlich, dass ein eindeutiges Kriterium aus einer Kriegsbeteiligung als solcher kaum gewonnen werden kann, und auch nicht daraus, ob die UNO diesen Krieg explizit billigt oder nicht. Letztlich wird man nicht darum herumkommen, den politischen Stellenwert eines Krieges zu beurteilen. Sofern an diesem Punkt eine breite internationale Anti-Kriegsbewegung existiert, wäre es zwingend notwendig, dem „kriegstreibenden“ Land eine Gastgeberrolle zu verweigern bzw. die Austragung eines Turniers zu entziehen.

Was Katar angeht, so sind ihre diversen Kriegsbeteiligungen m.E. vor allem im Kontext mit der Unterstützung radikal-islamistischer Strömungen zu sehen.

 

2. Unterstützung terroristischer Gruppen

Saudi-Arabien und andere arabische Staaten haben ihre Blockade gegen Katar 2017 damit begründet, dass das Emirat terroristische Gruppierungen unterstützt. Der Vorwurf ist zwar zutreffend, trifft aber für Saudi-Arabien selbst höchstwahrscheinlich ebenso zu, so dass die Gründe für die Blockade wohl woanders zu suchen sind.

Zu den Aktivitäten Katars auf diesem Gebiet sagt Wikipedia:

„Katar gilt neben der Türkei unter Erdoğan als wichtigster Unterstützer der Muslimbruderschaft und anderer radikaler Gruppen. Die Muslimbrüder werden mit ihrer Forderung zum Aufbau eines islamischen Staates von den arabischen Herrscherhäusern als Bedrohung ihrer Monarchien betrachtet.
 Nach Einschätzung von Experten unterstützt die katarische Regierung islamistische Terrorgruppen wie al-Qaida, die syrisch-oppositionelle al-Nusra-Front und den Islamischen Staat. (…) Viele islamistische Terroristen leben seit Jahren trotz internationaler Proteste unbehelligt in Katar.“

Der Islam ist in Katar Staatsreligion, die meisten katarischen Staatsbürger bekennen sich zur äußerst konservativen wahhabistischen Strömung, die auch in Saudi-Arabien gepflegt wird. Die massive Unterstützung der Muslimbruderschaft (die streng islamische Staatsstrukturen anstreben) erklärt sich aus ideologischen Überschneidungen mit dem Wahhabismus, aber auch aus außenpolitischem Kalkül. Die Unterstützung für al-Nusra bzw. den Islamischen Staat ist m.E. zwar nicht eindeutig bewiesen, wird aber durch viele Hinweise hinreichend belegt, um eine politische Ächtung des Staates Katar zu begründen.

 

3. Menschenrechte

Die FIFA folgt in einem Beschluss vom Mai 2017 der Menschenrechtserklärung der UNO und verspricht, die Menschenrechte in all ihren Tätigkeiten zu beachten. Sie sollen künftig (also ab 2026) Teil der Ausschreibung für eine WM-Ausrichtung werden. Da die Erklärung nach der Vergabe des WM-Turniers 2022 erfolgte, gilt dies für Katar noch nicht. 

Ohnehin betrachtet die FIFA die Menschenrechtssituation nur im Kontext mit dem jeweiligen Turnier. Was zeitlich oder sachlich nichts mit der WM-Austragung zu tun hat, spielt für die FIFA somit keine Rolle. Hieße beispielsweise: Menschenrechtsaktivisten, die für Religionsfreiheit eintreten, sollten nach dem Willen der FIFA während des WM-Turniers nicht mit Repressionen rechnen. Ob sie vor oder nach dem Turnier Schikanen ausgesetzt sind, beachtet die FIFA nicht weiter. Ebenso interessieren die FIFA die skandalösen sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in Katar nur insoweit, als die die Baustellen der WM-Stadien betreffen.

Dieser Ansatz bedeutet (wenn er denn umgesetzt wird) zwar einen Fortschritt gegenüber der bisherigen Praxis, reicht aber bei weitem nicht aus. Demnach hätte – bei vergleichbarem Vorgehen – auch die Nazi-Olympiade von 1936 durchgehen können. Es müsste einen Ansatz geben, die Menschenrechtslage in einem möglichen Austragungsland generell zu betrachten, um beurteilen zu können, ob dieses Land für eine Gastgeberrolle überhaupt in Frage kommt. Ein eindeutiges Kriterium sollte sein, inwieweit das Land zumindest formal-juristisch die demokratischen Grundrechte garantiert. Bei Katar ist dies ganz offensichtlich nicht der Fall: Homosexualität wird mit Gefängnis bis zu fünf Jahren zuzüglich Prügel bestraft. Religionsaustritt bzw. Wechsel vom Islam in eine andere Religion gilt als Kapitalverbrechen und kann theoretisch mit dem Tod bestraft werden (auch wenn dies in jüngster Zeit nicht vorgekommen ist).

Auch Frauen werden in Katar nicht nur in Alltag, sondern auch vor Gericht benachteiligt. Wikipedia nennt als Beispiele u.a.: „Beim Tod einer Frau ist nur halb so viel Entschädigung zu entrichten wie beim Tode einer männlichen Person. Erhebt eine Frau Anzeige wegen einer Vergewaltigung, riskiert sie eine Haftstrafe aufgrund des gleichzeitig stattgefundenen außerehelichen Geschlechtsverkehrs.“

Somit gelten in Katar schon formaljuristisch nicht das Recht auf freie Religionsausübung, auf selbstbestimmte sexuelle Orientierung und keine Gleichheit der Geschlechter. Das allein sollte ausreichen, das Land nicht als WM-Ausrichter infrage kommen zu lassen. 

(Anmerkung: Ob ein Land infrage kommt, das die Menschenrechte zwar per Verfassung garantiert, faktisch aber grob verletzt, muss natürlich im Einzelfall diskutiert werden, spielt aber wegen der genannten gesetzlichen Regelungen bezüglich Katar keine Rolle.)

 

4. Die Politik der FIFA

Spätestens seit 1978 wird die Tätigkeit der FIFA zunehmend kritisch gesehen, wobei sich der Fokus immer stärker auf ihr finanzielles Gebaren rund um die WM-Turniere richtet. Korruption spielt dabei ebenso eine Rolle wie Willfährigkeit gegenüber den Sponsoren. Diese äußert sich in seltsamen Anforderungen an die Turnierausrichter – bis hin zur vorgeschriebenen Biermarke, die in den Stadien ausgeschenkt werden darf. Die FIFA verlangt für das Turnier einen Gigantismus, der den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen sowie der Fußballkultur im Gastgeberland kaum Beachtung schenkt. Entscheidend sind die Interessen der Sponsoren sowie die Möglichkeiten einer weltweiten Vermarktung via TV. Insofern ist es ihr ziemlich egal, ob ein WM-Finale im Maracana stattfindet oder in einer Potemkin‘schen Stadionkulisse irgendwo in der Wüste.

Die örtliche Bevölkerung, die von diesem Gigantismus und von teils absurden FIFA-Auflagen betroffen ist – sei es durch Naturzerstörung, durch Zwangsumsiedlungen bei Stadionneubauten oder einfach dadurch, dass öffentliche Gelder in das WM-Turnier statt in soziale Projekte fließen – wehrt sich zunehmend dagegen. In demokratischen Gesellschaften, in denen sich dieser Protest artikulieren kann, führt dies zu Problemen bis hin zum Rückzug von Bewerbungen. Daher werden Großereignisse wie die Fußball-WM oder Olympische Spiele zunehmend in autokratisch oder diktatorisch regiert Länder vergeben.

Die Vergabe der WM 2022 an Katar demonstrierte überdeutlich, welch abstruse Folgen das System der FIFA hervorbringt. Es gibt keinen einzigen sachlichen Grund, dort ein WM-Turnier auszurichten. Entscheidend ist allein die Gier nach Geld, ob mittels Korruption in dunklen Kanälen oder ganz offiziell über die finanzielle Potenz des katarischen Emirats. Katar symbolisiert auf besonders sinnliche Weise die fatale Fehlentwicklung in der FIFA und bietet sich für eine Boykottbewegung daher geradezu an.

 

5. Katar ist kein Fußball-Land

Fast alle für die WM gebauten Stadien sind nach der WM völlig nutzlos; ihr Fassungsvermögen übersteigt oft die örtliche Bevölkerungszahl. Ohnehin liegen alle in einem absurd engen Radius. Daher werden einige nach dem Turnier abgebaut, die übrigen vielfach anders genutzt. Es sind nicht mehr als gigantische Jahrmarktbuden.

Dass Katar bis heute über keine gewachsene Fußballkultur verfügt, ist unbestreitbar. Und es ist ein weiteres Argument gegen eine WM dort. Denn dieser Umstand verstärkt den Trend, das WM-Turnier nicht als großes Völkertreffen zu sehen, als Zusammen-Kommen und Zusammen-Feiern von Fans aus aller Welt, sondern als ein TV-gerecht inszeniertes Medienspektakel. 

Zwar kann man ein WM-Turnier sehr wohl unter dem Gesichtspunkt einer „Fußball-Entwicklungshilfe“ sehen. Aber das beträfe wohl eher Länder, in denen viel Fußball gespielt, aber wenig Geld vorhanden ist. Da könnte die FIFA ihre Millionengewinne aus dem Turnier gut einsetzen. 

Nicht stichhaltig dagegen ist die Kritik an der hitzebedingten Verschiebung des Turniers in den Winter. Das ist für europäische Fans und Vereine vielleicht unangenehm, aber nicht wirklich ein Argument. Für die Länder der südlichen Halbkugel findet die WM fast immer im Winter statt. Die Berücksichtigung klimatischer Bedingungen sollte selbstverständlich sein.

 

Fazit

Der Beitrag wollte zeigen, dass es Argumente gegen eine WM in Katar reichlich gibt. Auf eine Zusammenfassung sei hier verzichtet, sie findet sich in unserem Boykott-Aufruf. 

Das Mittel eines Boykotts scheint uns als Ausdruck des Protestes die richtige Maßnahme zu sein, da sie die vielfältigen Kritikpunkte in einer praktischen Forderung bündelt und dabei auch auf die Sponsoren zielt, denen ihr gewaltiger finanzieller Einsatz ein wenig versalzen werden kann. Es ist auch kein unrealistisches Vorgehen, selbst wenn die WM selbst wohl kaum noch zu verhindern ist. Doch die Möglichkeit eines Boykotts ist schließlich nicht nur den teilnehmenden Verbänden, Teams oder Spielern gegeben, sondern natürlich auch jedem einzelnen Fußballfan. Auch als „Nur-Konsument“ hat er durchaus noch eine Macht. Er muss sich halt dem Spektakel und dem dazugehörigen Merchandising erklärtermaßen und konsequent verweigern.

 

Autor: Bernd Beyer


Zitate pro und contra Boykott

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„Wir werden uns über die neue politische Lage eng innerhalb der UEFA und auch mit der Bundesregierung abstimmen. Es sind noch fünf Jahre Zeit, in der politische Lösungen vor Boykottdrohungen den Vorrang haben müssen. (…) Ganz grundsätzlich sollte sich die Fußballgemeinschaft weltweit darauf verständigen, dass große Turniere nicht in Ländern gespielt werden können, die aktiv den Terror unterstützen.“

Reinhard Grindel im Juni 2017, damals noch als DFB-Präsident

 

„Ich würde als Fan nicht zur WM nach Katar fahren. Ethisch ist ein solcher Besuch nicht zu begründen. (…) Am besten wäre es, wenn die neue FIFA-Führung Katar die WM entzieht.”

Theo Zwanziger, ebenfalls ehemaliger DFB-Präsident, im Dezember 2015

 

„Sollte die Fifa nicht aus freien Stücken (wenn schon nicht aus eigener Einsicht) Katar die WM entziehen, muss die Politik sie dazu zwingen – mit einem Boykott.“

Andreas Hoidn-Borchers, Redakteur des „stern”, im Juni 2017

 

„Mit Blick auf die Themen Menschenrechtsverletzungen, Rassismus und Homophobie in Katar gab Keller zu Protokoll, dass die Nationalspieler ‚im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Stimme erheben‘ werden: ‚Unsere Spieler sind sich ihrer Rolle und Verantwortung durchaus bewusst.‘ Einen WM-Boykott schloss Keller aber aus: ‚Es macht keinen Sinn, zu Hause zu bleiben.‘"

Der aktuelle DFB-Präsident Fritz Keller laut SWR, im Dezember 2019

 

„Klare Kante von Riku Riski: Der finnische Nationalspieler verzichtet freiwillig auf die Reise ins Trainingslager nach Katar. Dort bereitet sich Finnland auf die im März beginnende Qualifikation für die Europameisterschaft 2020 vor. Riski hat seine Entscheidung mit ethischen Bedenken begründet.“

Meldung im „Sport Buzzer“, im Januar 2019

 

„Man muss dem Land die Chance geben, sich zu zeigen und zu präsentieren. Und wer weiß, vielleicht wird es die beste WM aller Zeiten. Ich denke, die Leute haben es sich verdient. (…) Ich kann es wirklich kaum erwarten. Ich denke, es wird ein wundervolles Erlebnis."

Jürgen Klinsmann, im Oktober 2019

 

„Was hat der Klinsmann da gerade erzählt: Er freue sich so richtig auf die WM in Katar, die werde noch schöner als die WM in Russland! Da habe ich gedacht: Alter, das geht gar nicht. Die WM wird auf Leichen gebaut.“

Peter Lohmeyer, Schauspieler (Das Wunder von Bern), im Dezember 2019


Fata Morgana WM 2022