WM 1934 – Wie Mussolinis Fußballkrieger das Turnier gewannen

1932 beauftragte der in Stockholm tagende FIFA-Kongress Italien mit der Austragung des zweiten WM-Turniers. Anders als beim Turnierauftakt 1930 sollten die Spiele nicht mehr nur in einer Stadt stattfinden. Damals waren die 18 Spiele allesamt in Uruguays Hauptstadt Montevideo und in nur drei Stadien ausgetragen worden. 

Neben Italien hatte sich zunächst auch Schweden für die WM 1934 beworben. Aber während Italien acht Städte als Spielorte präsentierte, wollten die Schweden nur in Stockholm ein neues Stadion errichten, in dem dann sämtliche Spiele stattfinden sollten. 

Italien garantierte der FIFA aber nicht nur ein Mehr an Stadien, sondern auch finanzielle Sicherheit. Die Italiener versprachen, für den Fall eines finanziellen Debakels alle Ausstände zu übernehmen. Mitbewerber Schweden konnte da nicht mithalten und zog seine Kandidatur zurück. 

Stadien als Monumente des Faschismus 

Seit 1922 regierte in Italien der faschistische Diktator Benito Mussolini. Die Ausrichtung des Turniers sollte Italiens internationales Renomee polieren sowie Stärke und Überlegenheit des Faschismus gegenüber den demokratischen Systemen demonstrieren. Die Regierung investierte enorme Summen in die Turniervorbereitung. In Turin, Florenz, Neapel, Rom und Mailand entstanden neue Arenen, oder es wurden bereits existierende renoviert. In Rom wurde die Spielstätte nach der faschistischen Partei benannt (Stadio Nazionale del PNF – PNF = Partito Nazionale Fascista), in Turin nach dem Diktator (Stadio Municipale Benito Mussolini). Nicht nur in Italien, auch in Deutschland, Spanien und Portugal betrachteten die Diktaturen den Bau monomentaler Stadien als Instrument zur Förderung nationalistischer und faschistischer Empfindungen. Was für Mussolini das Stadion in Rom war, sollte später für Hitler das Berliner Olympiastadion, für Franco das Bernabéu-Stadion in Madrid und für Salazar das Estádio da Luz in Lissabon sein.

Italiens Argentinier

1926 hatte Italien den Profifußball legalisiert. Gleichzeitig wurde die Verpflichtung ausländischer Spieler verboten. Österreichische und ungarische Legionäre mussten nun das Land verlassen.

Kompensiert wurde der Verlust durch eine erste Welle interkontinentaler Spielertransfers. Die italienischen Top-Klubs schauten sich in Südamerika nach Nachfahren italienischer Emigranten um. Denn diese konnten die italienische Staatsbürgerschaft beanspruchen, die ihnen von den faschistischen Behörden auch bereitwillig gewährt wurde. Zumal wenn es sich um Fußballer handelte. Die Legionäre wurden als repatriierte Personen betrachtet. Auch für Nationalcoach Vittorio Pozzo blieben die „Söhne italienischer Eltern, die zufällig nach Südamerika ausgewandert sind, Italiener.“ 

Der erste der sogenannten Oriundi im italienischen Fußball war der Argentinier Julio Libonatti, dessen Familie aus Genua stammte und bereits 1925 zum AC Turin geholt wurde. Präsident Enrico Maroni, Boss des Getränkeherstellers Cinzano, hatte den im argentinischen Rosario geborenen Kicker auf einer Geschäftsreise entdeckt. Nach dem olympischen Fußballturnier 1928 mit dem Finale Uruguay gegen Argentinien bediente sich auch Lokalrivale Juventus in Argentinien. 1929 lockte Fiat- und Juve-Boss Umberto Agnelli Raimundo Orsi nach Turin. Dort verdiente der Linksaußen das 15-fache Gehalt eines Grundschullehrers. 1931 nahm „Juve“ auch noch Orsis Landsmann Luis Monti unter seine Fittiche. Der AS Rom verpflichtete 1933 mit Enrique Guaita, Alessandro Scopelli und Andrea Stagnaro gleich ein komplettes Trio. 

In Italiens Kader für die WM 1934 standen mit Luis Monti, Enrique Guaita und Raimundo Orsi drei „Ex-Argentinier“. Von ihnen war nur Orsi für das Turnier spielberechtigt. Denn laut WM-Reglement musste ein Spieler, der die Nationalität wechselte, mindestens drei Jahre in seinem neuen Land leben und arbeiten, bevor er für dieses auflaufen durfte. Dies war bei Monti und Guaita nicht der Fall. Letzterer hatte noch 5. Februar 1933 für Argentinien gespielt.

Die FIFA ignorierte den offensichtlichen Reglementverstoß. Zu eng war die Verflechtung zwischen dem FIFA-Organisationskomitee und den Mussolini-Faschisten. 

Der Schiedsrichter als Freund und Helfer

Das Turnier in Italien ging vor allem auf Grund skandalöser Schiedsrichterentscheidungen in die Annalen ein.

Im Viertelfinale traf Gastgeber Italien auf Spanien. Die Mannschaft von Vittorio Pozzo gestaltete die Begegnung als Schlacht, was der belgischer Schiedsrichter Louis Baert zuließ. Besonders Spaniens „Wunderkeeper“ Ricardo Zamora, der einzige Katalane in seinem Team, wurde wiederholt hart angegangen. Regueiro brachte die Iberer nach einer halben Stunde in Führung. In der 44. Minute konnte Ferrari für die Gastgeber ausgleichen, nachdem Zamora gerempelt worden war. 1:1 stand es auch noch nach 120 Minuten, sodass man sich nur einen Tag später erneut sah.

Spanien ging stark gehandicapt in die Wiederholung. Einige Spieler mussten verletzt zuschauen, u.a. Zamora. Nun pfiff der Schweizer Mercet, der seinen Kollegen Baert in Sachen Parteilichkeit noch übertraf. Italien gewann mit 1:0, aber Giuseppe Meazzas Kopfballtor war irregulär. Der Inter-Star hatte den Ball nur deshalb mit der Stirn erwischt, weil er sich mit beiden Händen beim Zamora-Ersatz Nogués aufstützte. Zu diesem Zeitpunkt waren weitere Spanier verletzt. Linksaußen Bosch musste sein Engagement bereits nach vier Minuten einstellen. Am Ende standen nur noch acht Iberer auf dem Rasen. Den Spaniern wurden zwei Strafstöße verweigert und zwei Treffer wurden aus unerfindlichen Gründen nicht anerkannt. Schiedsrichter Mercet wurde später auf Lebenszeit gesperrt. 

Im Halbfinale traf Italien auf Österreich und gewann erneut mit 1:0. Schiedsrichter war der erst 28-jährige Schwede Ivan Eklind, der ungerührt zusah, wie Spielmacher Matthias Sindelar von Luis Monti wiederholt brutal gelegt wurde. Raimundo Orsi erzählte später in seinen Erinnerungen: Man habe Angst gehabt, im Falle einer Niederlage von Mussolini hingerichtet zu werden. 

Ivan Eklind beließ es nicht dabei, dem Getrampel der Azzurri tatenlos zu zuschauen. Kurz vor dem Abpfiff griff er direkt ins Spiel ein, als er eine gefährliche Flanke der Österreicher ins Toraus köpfte. Vor dem Halbfinale gegen Österreich war er Gast von Mussolini gewesen. 

Trotz seiner schwachen Leistung erhielt Eklind den Zuschlag für das Finale, in dem die Azzurri gegen die Tschechoslowakei nach 120 Minuten mit 2:1 die Oberhand behielten. Eklind machte erneut aus seinen Sympathien für den Gastgeber keinen Hehl. In der 55. Minute wurde der Prager Puc 14 Meter vor dem italienischen Tor von Monzeglio regelwidrig gestoppt, doch der fällige Elfmeterpfiff blieb aus. Eklinds Pfeife blieb auch stumm, als Meazza Krcil direkt vor den Augen des Referees einen Leberhaken verpasste. In der 76. Minute schoss Puc die Tschechen in Führung. Fünf Minuten später gelang Orsi der Ausgleich. Regelwidrig, denn zuvor hatte Meazza seinen Gegenspieler umgestoßen. In der Verlängerung schoss Schiavio Italien zum WM-Sieg, und der erste hässliche Weltmeister war geboren.

 „Über dem gesamten Wettbewerb brütete ein gewisser Geist“

 Viele Beobachter waren der Meinung, dass Pozzos Team nur im eigenen Land den Titel erringen konnte. Auch den Trainer plagten wohl Zweifel. Anders ist seine folgende Aussage kaum zu verstehen: 1938 in Frankreich werden wir beweisen, wer der wahre (!) Weltmeister ist.“ 

1934 durfte es keinen anderen Weltmeister als Italien geben. Gerieten die Italiener in Schwierigkeiten, reagierten sie mit Brachialgewalt – assistiert vom Schiedsrichter. 

Der Belgier John Langenus war einer der renommiertesten Schiedsrichter der 1920er und 1930er Jahre. Er hatte das erste WM-Finale zwischen Uruguay und Argentinien geleitet und war auch bei der WM 1934 dabei. Nach dem Turniere fällte Langenus ein vernichtendes Urteil über den Gastgeber: „Abgesehen von dem Wunsch, das Turnier zu gewinnen, waren alle anderen sportlichen Überlegungen beim Gastgeber nicht existent. Über dem gesamten Turner brütete ein gewisser Geist. Die Italiener wollten gewinnen, was natürlich war, aber sie gaben dies zu deutlich zu erkennen.“ Für das Schweizer Fachblatt „Sport“ ging es beim Turnier um folgende Dinge gegangen: „1. um die Ehre, 2. um die Einnahme, 3. um die Wirkung auf das Duce-Publikum, 4. um die WM, 5. um Fußball, 6., 7., 8. und 9. um den möglichst geeigneten Schiedsrichter und 10. auch um Sport.“ 

Die Faschisten zogen eine positive Bilanz des Turniers. So liest man in ihrem Abschlussbericht: „Die Weltmeisterschaft hat zu so vielen Erwägungen Veranlassung gegeben, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Alle deuten aber darauf hin, dass die Entwicklung der Dinge, abgesehen von ihrer sich stets steigernden dramatischen Wucht, vernünftig und musterhaft gewesen ist. Wir haben uns jedenfalls alle Mühe gegeben, niemals das höchste Ziel aus dem Auge zu verlieren, nämlich zu beweisen, dass der Sport des faschistischen Italiens den höchsten Zielen zustrebt durch das Verantwortungsbewusstsein seiner Führer und das sportliche Verhalten der großen Massen. Dies alles aber verdanken wir einem einzigen Imperator, dem Duce.“

Deserteure

Nicht alle italienischen Spieler folgten dem nationalistischen Wahn Mussolinis. In der zweiten Hälfte der 1930er nahm die Zahl der Oriundi deutlich ab. Gründe waren die Legalisierung des Profifußballs in Argentinien und das politische Klima in Italien. Die Oriundi gerieten zusehends in Misskredit, da man ihren Patriotismus und ihr „Italienertum“ anzweifelte. Im Sommer 1935 erhielt Guaita die Einberufung zum Militär und befürchtet einen Kampfeinsatz im italienisch-äthiopischen Krieg. Er flüchtete zunächst mit zwei weiteren Roma-Oriundi, Alessandro Scopelli und Andrea Stagnaro, nach Frankreich und kehrte von dort nach Argentinien zurück. Dort streifte er 1937 noch einmal das Trikot der Albiceleste über. Auch Raimundo Orsi entzog sich dem Militärdienst und flüchtete nach Südamerika, wo er noch für Penarol Montevideo und Flamengo Rio de Janeiro spielte. 

Die Flucht der vier Spieler geriet zum nationalen Skandal, das faschistische Regime beschimpfte sie als Feiglinge, Diebe und Schmuggler.

 

Dietrich Schulze-Marmeling