WM 1938 – „DAVID TELL“ GEGEN NAZI-DEUTSCHLAND 

Das Turnier in Paris, das im Juni 1938 stattfand – und damit 14 Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs –, stand bereits ganz im Zeichen von Hitlers Expansionspolitik. Im spanischen Bürgerkrieg wirkte die deutsche Wehrmacht wesentlich daran mit, das Blatt zugunsten des diktatorischen Franco-Regimes zu wenden. In der Tschechoslowakei betrieb das Deutsche Reich die Annexion der Sudetenregion. Und im März, nur drei Monate vor dem WM-Anpfiff, besetzten Wehrmachts- und SS-Verbände Österreich, um den sog. „Anschluss“ des Landes als „Ostmark“ ans Deutsche Reich durchzusetzen.

Letzteres hatte unmittelbare Auswirkungen auf das WM-Turnier, da Österreich qualifiziert war, aber nach Auflösung des ÖFB nicht mehr als eigenständiger Verband teilnehmen konnte. Reichstrainer Sepp Herberger musste eine politisch genehme „großdeutsche“ Auswahl zusammenbasteln, um die internationale Stärke des österreichischen Fußballs zumindest dem Schein nach anzuerkennen. Ein Unternehmern, auf das er sich nur widerwillig einließ, denn der spielerische „Donaufußball“ österreichischer Prägung und das stabile deutsche „W-M-System“ passten nur schlecht zusammen. Die Formel „6 + 5“ („Altreich“ + „Ostmark“) war alles andere als ein Erfolgsrezept.

Antideutsche Stimmung in der Schweiz

Als ersten Gegner bekamen die „Großdeutschen“ im Achtelfinale (Gruppenspiele gab es nicht) die Schweiz zugelost. Das war schon sportlich keine leichte Aufgabe; in zwei vorangegangenen Freundschaftsspielen hatte sich die DFB-Elf einmal knapp 1:0 durchgesetzt (Mai 1937) und einmal unentschieden gespielt (Februar 1938). Man spielte also auf Augenhöhe.

Brisanter war die antideutsche Stimmung, die sich in der Schweiz anlässlich dieser Spiele artikuliert hatte. Beim deutschen Gastspiel in Zürich kam es zu massiven politischen Demonstrationen. Die Schweizer Historiker Brändle und Koller zitieren einen Gestapo-Bericht, in dem es hieß: „Auf dem Hauptbahnhof wurden Hakenkreuzfahnen demonstrativ zerrissen. Frauen fuhren sich damit über das Gesäß. Flugblätter, verfasst von Heinrich Mann und solche, die sich auf den Krieg in Spanien bezogen, wurden geworfen.“

Seither hatte sich die Stimmung noch verschlechtert. Brändle/Koller: „Eine kurz nach dem ‚Anschluss‘ erschienene Ausgabe der Zeitschrift ‚Der Schulungsbrief‘, die eine Auflage von über drei Millionen Exemplaren hatte und als Hauptlehrmittel an NSDAP-Schulungsabenden diente, erregte in der Schweizer Öffentlichkeit Aufsehen, war darin doch eine Karte abgebildet, welche die Schweiz zum ‚deutschen Volksraum’ zählte. Dass in dieser aufgeladenen Atmosphäre eine sportliche Begegnung der beiden Staaten eine besondere Bedeutung erlangte, vermag nicht weiter zu verwundern.“

Pfiffe in der Schlacht

So war die WM-Begegnung der beiden Mannschaften von vornherein politisch aufgeladen – sowohl auf dem Rasen wie auf den Rängen. Die Spieler begegneten sich mit übergroßer Härte – die französische „L’Équipe“ sah „mehr eine Schlacht als ein Spiel“. Und die Zuschauer standen fast ausschließlich auf Seiten der Eidgenossen – sieht man von den wenigen deutschen Schlachtenbummlern ab, die eisern das „Horst-Wessel-Lied“ anstimmten und dafür heftig ausgepfiffen wurden, von Schweizern wie Franzosen. In Frankreich regierte eine linke Front Populaire und stemmte sich gegen rechtsextreme Umsturzversuche. Die öffentliche Meinung wandte sich ganz überwiegend gegen die deutschen Nazis und ihre fußballerischen Aushängeschilder. Die sozialistische Tageszeitung „Le Populaire“ nannte die deutschen Spieler ironisch „Unterführer des deutschen Sports“.

Nach dem 1:1 in der ersten Begegnung wurde ein Entscheidungsspiel notwendig, wobei sich die Stimmungslage auf den Rängen nicht änderte. Dazu trug auch der Schweizer Stürmer André Abegglen bei, der seit 1935 in der französischen Division 1 spielte, dort zum Torschützenkönig avancierte und mit seinem Verein FC Sochaux zweimal französischer Meister wurde. Gegen die Deutschen trat er als gemeinsamer Publikumsliebling der französischen wie der Schweizer Zuschauer an – was er im ersten Spiel durch seinen Ausgleichstreffer und im zweiten Spiel durch zwei Tore zum 4:2-Erfolg noch untermauerte.

Kein Wunder, dass sich der Berichterstatter des Münchner „Fußball“ über eine „einseitige“ Stimmung auf den Rängen beklagte und darüber, „dass die viel zitierte französische Gastfreundschaft doch sehr nachgelassen hat“. Freistöße gegen die Deutschen seien mit Beifall bedacht worden, Freistöße für die Deutschen mit Pfiffen und Schlimmerem. Die frustrierte Berliner „Fußballwoche“ sah gar „eine Kulisse von einseitigsten, unsportlichsten Fanatikern, die an der deutschen Fußballmannschaft irgendwelchen politischen Ärger glaubten austoben zu können“. Damit sei es dem Publikum gelungen die „deutsche Mannschaft zu entnerven und die Entscheidung gegen sie zu erzwingen“. 

Auch Reichstrainer Herberger strickte an dieser Dolchstoßlegende mit und notierte: „Niedergeschrieen bei jedem geringsten Körpereinsatz, getrauten sich unsere Leute überhaupt nicht mehr zu kämpfen.“

Eidgenössischer Jubel

In der Schweiz sorgte der Erfolg über den großen Nachbarn für überschäumenden Jubel; auf den Straßen wurde getanzt und die Nationalflagge geschwungen. Allenthalben wurde das Bild vom „David gegen Goliath“ und die eidgenössische Gründungslegende Wilhelm Tell bemüht.

Der Jubel hatte eine unübersehbare politische Dimension, die im bürgerlichen Lager eher patriotisch, im linken Lager eher antifaschistisch orientiert war. Die Basler „Arbeiterzeitung“ kommentierte: „Es war gestern Abend toll in den Straßen unserer Stadt. Der ganze Hass gegen das Dritte Reich kam zum Ausdruck.“ Brändle/Koller zitieren den späteren Präsidenten der schweizerischen Sozialdemokraten, Nationalrat Helmut Hubacher: „Für meinen Großvater war es ein politisches Match; es war die Schweiz gegen Hitler-Deutschland, gegen die Nazis.“

Hitler-Deutschland schmollte entsprechend, im Nachhinein vor allem gegen die französischen Gastgeber. Der „Fußball“ schrieb in Anspielung auf das misslungene 6+5-Experiment: „Einige Franzosen geben ihrer Freude unverhohlen Ausdruck, dass der ‚Anschluss‘ so gründlich missglückt ist.“ Um jenen Franzosen warnend zu entgegnen: „Na, wartet nur ein Weilchen.“

Vielleicht war die Drohung nur sportlich gemeint. Doch sie wurde blutiger Ernst, als genau zwei Jahre später Hitlers Truppen Frankreich überfielen.

Bernd Beyer