WM 1950 – In einer neuen Weltordnung
Zweimal war das WM-Turnier wegen des Zweiten Weltkriegs ausgefallen – 1942 und 1946 –, doch nun sollte es wieder losgehen. Die Organisatoren sahen sich einer Weltordnung gegenüber, die sich infolge des Krieges grundlegend verändert hatte. Nicht mehr das Vormachtstreben faschistischer Regimes beherrschte die politische Landschaft, sondern der Ost-West-Konflikt. Alle osteuropäischen Staaten wurden nun „realsozialistisch“ regiert und zählten zur Einflusssphäre der Sowjetunion; zugleich waren die USA zur Weltmacht aufgestiegen.
Umbrüche in der FIFA
Vor dem Krieg hatte die UdSSR nicht der FIFA angehört. Der sowjetische Fußballverband pflegte Kontakte zu den linken Arbeiter-Sportverbänden in kapitalistischen Staaten; es gab auch Länderspiele, beispielsweise 1927 zwei Begegnungen gegen eine deutsche Arbeiter-Auswahl in Leipzig und Hamburg oder 1932 ein Freundschaftsspiel in Moskau, vor 50.000 Zuschauern. (In allen drei Spielen siegte die Sowjet-Auswahl). Gegen die Türkei kam 1924 und 1925 sogar zu zwei Länderspielen gegen die Auswahl eines Nationalverbandes, der der FIFA angehörte – was laut FIFA-Statut eigentlich verboten war. Aber der Weltfußballverband drückte ein Auge zu. Anders als das strikt antikommunistisch orientierte IOC verfolgte die FIFA schon früh das Ziel, die Sowjetunion zum Beitritt zu bewegen.
Dies gelang aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Inzwischen war die Kommunistische Internationale aufgelöst worden, was einen gewissen Verzicht der Sowjetunion auf internationale, kommunistisch orientierte Parallelstrukturen bedeutete. Auch die „Rote Sportinternationale“ gab es nicht mehr, vielmehr näherte man sich nun den „bürgerlichen“ Einheitsverbänden an. Sowohl die UdSSR wie die großen Fußballnationen Ungarn, Tschechoslowakei und Jugoslawien stellten Aufnahmeanträge. Ebenso die britischen Verbände, die nach dem Ersten Weltkrieg die FIFA verlassen hatten – unter anderem aus Zorn darüber, dass der internationale Verband Britanniens Kriegsgegner Deutschland nicht ausgeschlossen hatte.
Das war nun, nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg, anders. Deutschland und Japan flogen aus der FIFA und durften erst zurückkehren, als das WM-Turnier 1950 bereits gelaufen war. Diese Entscheidung erleichterte den Briten sicherlich die Rückkehr, weshalb die FIFA nun breiter aufgestellt war als je zuvor. „Von nun an beginnt für die FIFA – und allgemein auch für den Fußball – eine neue Epoche“, schrieb der (deutsche) FIFA-Generalsekretär Ivo Schricker und prophezeite „eine vollkommene und freundschaftliche Union der Assoziationen der Welt“.
„Ostblock“ zögert noch
England nahm tatsächlich an dem Turnier 1950 in Braislien teil, bekam aber mit einem schmählichen 0:1 gegen das fußballerische Entwicklungsland USA die Quittung für seine jahrzehntelange arrogante Abschottung.
Aus Osteuropa dagegen ging lediglich Jugoslawien an den Start. Das Land wurde zwar sozialistisch regiert, verstand sich aber gegenüber der sowjetischen Hegemonialmacht als „blockfrei“. Die technisch starken Kicker vom Balkan, Halbfinalisten bei der ersten WM 1930, schlugen sich gut und gewannen zwei Gruppenspiele gegen Mexiko und die Schweiz deutlich. Ihr Pech war, dass in ihrer Gruppe auch Gastgeber Brasilien mitspielte und dass nur der Gruppenerste die Finalrunde erreichte. Das entscheidende Spiel verloren die Jugoslawen nach nahezu ausgeglichenem Spiel vor 142.000 Zuschauern mit 0:2.
Die UdSSR schickten wie die übrigen realsozialistischen Staaten ihre Fußballer nicht zur WM. Zwar hatte die sowjetische Führung 1949 das Vorhaben beschlossen, „in der unmittelbaren Zukuft die globale Vormachtstellung in wichtigen Sportarten zu erlangen“. Doch unter der Fuchtel Stalins nahm man den internationalen Spielverkehr nur zögerlich auf. Man fürchtete, sich durch Niederlagen den Zorn des Diktators einzufangen. Nikolai Romanow, der damalige Vorsitzende des Sowjetischen Sportkomitees, berichtete später: „Um eine Genehmigung für die Teilnahme an internationalen Wettbewerben zu erhalten, musste ich eine spezielle Notiz an Stalin senden, in der ich einen Sieg garantierte.“ Und das ist im Fußball bekanntlich besonders schwer.
Dass die Furcht nicht unbegründet war, sollte sich nach den Olympischen Spielen 1952 erweisen: Die Sbornaja fuhr zum olympischen Fußballturnier nach Helsinki, scheiterte aber in der ersten Runde ausgerechnet am Dissidenten Jugoslawien. Stalin sah die Niederlage als persönlichen Affront und ließ kurzerhand die Nationalmannschaft auflösen. Spieler und Trainer wurden als Agenten des jugoslawischen Titoismus verdächtigt, ein Vorwurf, der leicht im Gulag enden konnte. Nach Stalins Tod 1953 kam die Sbornaja wieder zusammen und zeigte bald ihre internationale Klasse, als sie gegen den amtierenden Weltmeister BRD zweimal gewann. 1956 holte sie mit olympischem Gold in Melbourne ihren ersten internationalen Titel, 1960 bei der Europameisterschaft den zweiten.
Doch das WM-Turnier 1950 in Brasilien kam für die meisten Ostblock-Mannschaften noch zu früh. Die Sowjets beispielsweise hatten noch kein einziges FIFA-Länderspiel absolviert. Und die traditionell starken Fußballnationen Ungarn (WM-Finalist 1938) und Tschechoslowakei (WM-Finalist von 1934) waren noch mit der sozialistischen Umorganisation ihres Sport beschäftigt. In Ungarn bildeten sich erste Konturen des „Wunderteams“ um Ferenc Puskác und Nandor Hidegkuti heraus, das bald Furore machen sollte: Gold beim olympischen Fußballturnier 1952, sensationeller 6:3-Sieg gegen England 1953 im heiligen Wembley. Und für die WM 1954 galt man als felsenfester Favorit …
P.S.: Das brasilianische Trauma
Bekanntlich verlor Gastgeber Brasilien bei der WM 1950 vor 200.000 Zuschauern im Maracana das entscheidende Spiel gegen Uruguay und damit auch den fest erwarteten Titel als Weltmeister. Das ganze Land fiel in eine tiefe Depression. Angesichts des in der brasilianischen Gesellschaft grassierenden Rassismus‘ wurden die Sündenböcke wenig überraschend beim farbigen Teil des Nationalteams gesucht. Dietrich Schulze-Marmeling schreibt in seiner „Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft“: „Als Schuldige für die Tragödie wurden die drei schwarzen Spieler Bigode, Barbosa und Juvenal ausgemacht, denen ein Mangel an Charakter, Persönlichkeit und Disziplin vorgehalten wurde. Von Bigade wurde kolportiert, er sei ein Säufer.“
Barbosa galt bis zum Finale als bester Torhüter des Turniers, doch ein vermeintlicher Fehler, der Uruguays Siegtreffer ermöglichte, hing ihm nun an. Noch 1993, als er die Selecao im Trainingslager besuchen wollte, verwehrte man ihm den Zutritt, weil man ihn als Unheilbringer fürchtete. Barbosa damals: „In Brasilien ist die Höchststrafe für ein Verbrechen 30 Jahre, doch ich zahle jetzt schon 43 Jahre für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe.“ Es sollte 56 Jahre dauern, bis zur WM 2006, dass wieder ein farbiger Keeper bei einer Endrunde das brasilianische Tor hüten durfte.
Vom Trauma eines verpassten Titelgewinns im eigenen Land wollte sich Brasilien schließlich im Jahr 2014 heilen, als man erneut als Gastgeber fungierte. Das trostlose Ende dieser Hoffnung ist bekannt und lässt sich in zwei Ziffern ausdrücken: 1:7.
Bernd Beyer