WM 1958 – Ein beleidigter Titelverteidiger
Als sich „Hammer“ Juskowiak in der 59. Minute des Halbfinals gegen Gastgeber Schweden zu einem Revanchefoul an seinem Gegenspieler Kurt Hamrin hinreißen ließ und vom Platz flog, war für die bundesdeutsche Mannschaft die WM 1958 gelaufen. Sportlich, weil man anschließend zwei Gegentreffer kassierte und mit 1:3 den erhofften Finaleinzug verpasste. Und stimmungsmäßig, weil man sich in eine beträchtliche Empörung steigerte und dieses Gefühl mit nicht wenigen Deutschen zu Hause teilte.
Dabei bewies der vierte Platz, auf dem man nach einer abschließenden 3:6-Niederlage gegen Frankreich schließlich landete, dass Herbergers Elf weiterhin zur Fußball-Elite der Welt zählte und der Titelgewinn von 1954 kein Zufall gewesen war. Daran war zeitweilig durchaus gezweifelt worden. In den 18 Länderspielen, die nach dem Finale von Bern bis zum Jahresende 1956 ausgetragen wurden, hatte die DFB-Elf zwölf Niederlagen bezogen und „Kicker“-Chefredakteur Robert Becker ein vernichtendes Urteil gefällt: „Der deutsche Fußball ist auf ein provinzielles Niveau abgesunken.“
Erst der Boss, dann der Hammer
Bundestrainer Sepp Herberger hatte damit begonnen, die Weltmeisterelf auf vielen Positionen umzubauen, doch auf zwei bewährte Oldies mochte er nicht verzichten: Fritz Walter, der im November 1956 seinen Rücktritt erklärt hatte, überredete er zum Comeback. Und „Boss“ Helmut Rahn, der aus dem Kader geflogen war, weil er unter Alkoholeinfluss einen Autounfall verursacht hatte und zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt worden war, wurde begnadigt und durfte wieder im DFB-Dress spielen, wo er sich torgefährlich wie eh und je zeigte.
Im Viertelfinale gegen Jugoslawien war es denn auch der „Boss“, der auf Rechtsaußen drei Gegenspieler stehen ließ und aus spitzem Winkel ein überraschendes Tor erzielte. Es war zugleich das einzige des Spiels. Zwar hatten die Deutschen in den Gruppenspielen (gegen Argentinien, Tschechoslowakei und Nordirland) nicht geglänzt, aber unverdient war ihr Einzug in die Runde der letzten Vier keineswegs. Sie konnten zufrieden sein. Bis der „Hammer“ zuschlug.
Das Foul an sich war keine große Sache. Sicher, es war eine Revanche-Aktion und der Platzverweis gerechtfertigt. Aber es war weder brutal noch annähernd so spektakulär wie etwa Zindanes Kopfstoß im Finale 2006. Erich Juskowiak, der Mann von Fortuna Düsseldorf, dessen Spitzname sich keineswegs von seiner harten Spielweise, sondern von seiner Schussstärke herleitete, hatte schlicht die Nerven verloren – irritiert von einer ungewohnt lautstarken Kulisse und gefrustet von den Dribbelkünsten seines Gegenspielers Kurt Hamrin. Zur Staatsaffäre wurde der Platzverweis durch die überaus beleidigte Reaktion der deutschen Offiziellen und eines großen Teils der Öffentlichkeit zu Hause.
„Ein mittelmäßiges Volk“
Lang war die Liste deutscher Klagen über Benachteiligungen im Gastgeberland Schweden: Die Partie sei kurzfristig von Stockholm nach Göteborg verlegt worden, weshalb man Mühe hatte, noch ein Quartier zu finden. Organisierte „Einpeitscher“ hätten im Stadion vor dem Anpfiff eine antideutsche Stimmung geschürt. Nicht die Deutschen hätten hart agiert, sondern die Schweden; erst die Verletzung von Fritz Walter durch ein schwedisches Foul habe die beiden späten Gegentore möglich gemacht. Der ungarische (!!) Schiedsrichter István Zsolt habe einseitig gepfiffen und den Deutschen einen klaren Elfmeter verweigert.
Die Kommentare deutscher Journalisten erinnerten zuweilen an Kriegsberichterstattung. „Die deutsche Mannschaft ließ sich tausendfach beleidigen und blieb im Felde“, schrieb die „Welt“. „Was haben wir den Schweden getan? In beiden Weltkriegen hat kein deutscher Soldat schwedischen Boden betreten“, klagte das „Sport-Magazin“. „Ein mittelmäßiges Volk“ sah die „Saar-Zeitung“ in den Schweden, eines, „das sich nie über nationale oder völkische Durchschnittsleistungen erhoben hat und den Hass über uns auskübelte, der nur aus Minderwertigkeitskomplexen kommt.“
Auch die in Buchform gegossenen WM-Rückblicke des Jahres 1958 schäumten. „Die Einpeitscher bliesen zum letzten Sturm. Die maßlos gewordene Leidenschaft warf über das harte, aber doch meist sportlich-faire Spiel düstere Schatten,“ heißt es in einem Werk; (un)passende Fotos zeigen einen Mann mit Megafon, der vor dem Spiel die Schweden-Fans zu „Heja“-Rufen animiert, und einen zweiten, der vor der Tribüne vergnügt seine große Schwedenfahne schwingt. Ein anderes Buch spricht von „versteckten Ressentiments“ und „organisiertem Fanatismus“ (auf schwedischer Seite) sowie von „Einpeitscher-Methoden, die wir noch nie auf anderen Fußballfeldern Europas erlebt haben. (…) Ein vom tobenden Hexenkessel beeinflusster Schiedsrichter war nicht in der Lage, die Wogen zu glätten.“
Die chauvinistischen Ergüsse auf deutscher Seite hatten zweifellos mit unbewältigter Vergangenheit im Verhältnis beider Staaten zu tun. Schweden hatte sich im Zweiten Weltkrieg seine Neutralität durch beträchtliche Zugeständnisse an Nazi-Deutschland gesichert: Truppentransporte durch schwedisches Gebiet waren erlaubt, beträchtliche Mengen Eisenerz ans deutsche Reich geliefert worden. Flüchtlinge hingegen wurden nur sehr restriktiv aufgenommen, deutsche Deserteure überhaupt nicht. Diese Politik änderte sich wesentlich, als sich die deutsche Niederlage abzeichnete; hinterfragt wurde sie allerdings erst sehr viel später. Im konservativen Nachkriegsdeutschland wiederum sah man Schweden voller Misstrauen als ehemaliges Refugium linker Exilanten und Hochburg der Sozialdemokratie, die sich nach 1945 anschickte, die schwedische Gesellschaft zu liberalisieren. Zwischen den Staaten herrschte 1958 keineswegs die spätere Unverkrampftheit.
„Keine Spiele mehr in Schweden“
Freilich: Die vermeintlich deutschfeindliche Stimmung im „Hexenkessel Göteborg“ hatte vor allem aus „Heja“-Rufen bestanden, mit denen das schwedische Publikum traditionell die eigene Nationalmannschaft anfeuerte, wie der „Kicker“ fairerweise feststellte. Zugleich berichtete Herberger-Biograf Jürgen Leinemann vom „lärmenden Auftreten“ bundesdeutscher Fans, die eine „befremdliche Mischung aus Großmäuligkeit und unterschwelliger Angst vor Enttäuschung“ gezeigt hätten.
Echte fremdenfeindliche Aktionen wurden anschließend aus der Bundesrepublik berichtet, wo schwedischen Touristen die Reifen zerstochen und das Tanken verweigert wurde, wo schwedische Musikgruppen ausgeladen und eine schwedische Kinderkapelle bei der Kieler Woche ausgebuht wurde. Beim Aachener Reitturnier holten einige Jugendliche die schwedische Flagge vom Mast. Der spätere Bundestrainer Helmut Schön, 1958 Herbergers Assistent, kommentierte: „Hier war – durch eine angebliche Ungerechtigkeit – ein nationaler Bodensatz aufgerührt worden, der nichts mit Sport zu tun hatte.“
Jahrzehnte später kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ in einem Buch zur WM 1958: „Gleich nach dem Spiel erfolgte ein wütender Aufschrei der deutschen Volksseele. 13 Jahre mühsam gebändigter Chauvinismus und unter dem Mantel des wirtschaftlichen Aufschwungs versteckter Fremdenhass brachen sich Bahn.“
Zu den Wutbürgern gehörte auch DFB-Präsident Peco Bauwens. Er war schon 1954 nach dem WM-Sieg von Bern mit chauvinistischer Rhetorik unangenehm aufgefallen, als er in einer „Sieg-Heil-Rede“ („Süddeutsche Zeitung“) die Endspiel-Elf als „Repräsentanten besten Deutschtums im Ausland“ gefeiert hatte. Auch jetzt, 1958, konnte er sich nicht zurücknehmen. „Wir wurden ein Opfer der Hetze gegen unsere Mannschaft“, grollte er. „Solange ich im DFB mitentscheidend tätig bin, wird es in der nächsten Zeit keine Spiele mehr auf diesem Pflaster in Schweden geben.“ Und an anderer Stelle: „Was hier passiert, grenzt an Volksverhetzung. Nie mehr werden wir dieses Land betreten, nie mehr werden wir gegen Schweden spielen.“ Sprach’s und reiste samt Mannschaft aus Skandinavien ab, ohne wie vorgesehen am Abschlussbankett des Turniers teilzunehmen.
Doch wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. Für die Qualifikation zur WM 1966 wurde dem DFB-Team als Gegner ausgerechnet Schweden zugelost.
Bei diesem Text handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags aus dem „Goldenen Buch der Fußball-Weltmeisterschaft“, 2014 erschienen im Verlag Die Werkstatt.
Bernd Beyer