WM 1962 und 1966 – Afrika im Abseits

Dass es heutzutage normal ist, dass eine Reihe afrikanischer Teams an den WM-Endrunden teilnehmen, ist einer Entwicklung geschuldet, die erst in den 1960er Jahren begann. Den Durchbruch brachte ein Boykott der WM 1966.

Vorgeschichte

Seit ihrer Premiere waren die Endrunden-Turniere der WM vor allem eine Angelegenheit der Fußball-Hochburgen Europa und Südamerika. 1930 in Uruguay war die Zahl der Interessenten überschaubar, jeder Nationalverband, der wollte, durfte kommen. Viele Europäer, denen die Anreise zu beschwerlich schien, glänzten durch freiwilliges Fernbleiben, und so blieb es die bisher einzige Endrunde, in der mehr südamerikanische (7) als europäische (4) Mannschaften antraten. Hinzu kamen zwei Teams aus der Mitte und dem Norden Amerikas. 

Umgekehrt erschienen zur zweiten Auflage, 1934 in Italien, nur zwei Mannschaften aus Südamerika, dafür 12 aus Europa. 32 Länder hatten sich gemeldet, es gab Kontinent-bezogene Qualifikationsrunden. Die wurden in Südamerika allerdings zur Farce, weil letztlich eben nur zwei Mannschaften antraten und kampflos nach Italien fahren konnten. In der kombinierten Afrika/Asien-Gruppe setzte sich Ägypten gegen das Team Palästinas durch (das aus jüdischen Spielern bestand). Mehr Bewerber gab es dort nicht.

Noch ungleichgewichtiger gestaltete sich das Turnier von 1938 in Paris. Die südamerikanischen Verbände waren erzürnt darüber, dass die FIFA die Endrunde erneut in ein europäisches Land, Frankreich, gelegt hatte. Nach und nach verzichteten alle Südamerikaner, bis auf Brasilien. Ansonsten bewarben sich außerhalb Europas nur noch Kuba und Niederländisch-Indien, die somit kampflos qualifiziert waren. 13 der 16 Endrundenteilnehmer kamen also aus Europa, allerdings konnte Österreich nicht mehr antreten, weil es nicht mehr existierte.

1950 wollte überhaupt keine Mannschaft aus Asien oder Afrika teilnehmen, beide Kontinente wurden von Bürgerkriegen oder Aufständen gegen das Kolonialsystem erschüttert. So kamen die Teilnehmer ausschließlich aus Europa und Amerika. Erst 1954 gab es einen globalen Qualifikations-Wettbewerb, der seinen Namen halbwegs verdiente. Allerdings musste sich der einzige afrikanische Teilnehmer, Ägypten, noch mit einem europäischen Vertreter, Italien, messen, so dass am Ende wieder kein Afrika-Vertreter teilnahm. Immerhin war für Asien eine eigene Quali-Gruppe und damit ein fester Teilnehmer angesetzt; so kam Südkorea zu seiner WM-Premiere.

1958 wurde in dieser Hinsicht ein Rückschritt, denn für Asien/Afrika zusammen war nur ein einziger Platz unter 16 Teilnehmern vorgesehen. Die Qualifikationsspiele dort waren von politischen Querelen überschattet: Taiwan mochte nicht gegen die Volksrepublik China antreten, Zypern durfte auf Geheiß der britischen Behörden nicht zum Gegner Ägypten reisen, und kein einziges islamisches Land wollte gegen Israel spielen. Die Israelis wären kampflos nach Schweden gekommen, doch die FIFA verlangte Qualifikationsspiele gegen Wales, die von den Briten gewonnen wurden. So fand die Endrunde wieder ohne afrikanische oder asiatische Vertreter statt, dafür erneut mit 12 europäischen.

1962: Afrika meldet sich

Lange Zeit war Ägypten das einzige afrikanische Land gewesen, das eine gewisse Fußball-Infrastruktur vorweisen konnte. Nachdem immer mehr afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erkämpft und nationale Regierungen etabliert hatten, ändert sich das Bild. Zur WM 1962 meldeten sich Tunesien (unabhängig seit 1956), Marokko (seit 1956), Sudan (seit 1956), Ghana (seit 1957) und Nigeria (seit 1960). Doch die FIFA honorierte diese Entwicklung nicht. Für Afrika gab es keinen einzigen festen Platz in der Endrunde, vielmehr musste der siegreiche Afrika-Vertreter noch gegen ein europäisches Team antreten; Marokko verlor gegen Spanien. Ähnlich verfuhr die FIFA in Asien, wo Südkorea gegen Jugoslawien den Kürzeren zog. So waren am Ende erneut ausschließlich Mannschaften aus Europa (10), Südamerika (5) sowie Nord- und Mittelamerika (1) beim Turnier in Chile vertreten.

Die FIFA-Granden begründeten ihre starre Haltung damit, dass nur die sportlich stärksten Teams bei der WM-Endrunde mitmischen sollten. Doch so „rückständig“ waren manche afrikanischen Fußballnationen gar nicht. Marokko verlor die beiden Qualifikationsspiele gegen das starke Spanien nur sehr knapp, mit 0:1 und 2:3. Und zweifellos hätte sich eine WM-Teilnahme positiv auf die fußballerische Entwicklung in Afrika und Asien – wo immerhin die Mehrheit der Weltbevölkerung lebte – ausgewirkt. Möglicherweise war genau das aber nicht erwünscht. 

Im Hintergrund spielte sicherlich eine eurozentristische, post-koloniale Haltung führender FIFA-Funktionäre eine Rolle. Fußball galt zu allererst als englisches, dann britisches, schließlich europäisches Spiel. Seit ihrer Gründung wurde der internationale Fußballverband ausschließlich von Europäern geführt, ab 1955 von Engländern. Der aktuelle Präsident, Sir Stanley Rous, galt als besonders ausgeprägter Eurozentriker mit rassistischem Einschlag. Beim Apartheid-Staat Südafrika bevorzugte er den „rein weißen“ Verband FASA (Football Association of South Africa) für eine FIFA-Mitgliedschaft, nicht aber den multiethnischen SASF (South African Soccer Federation), dem er „kommunistische“ Neigungen unterstellte.

Diese arrogante Haltung spiegelte sich auch im Umgang gegenüber den amerikanischen Verbänden. In Amerika hatten europäische Einwanderer die einheimische Bevölkerung weitgehend vernichtet oder verdrängt, daher sah man die Fußballnationen dort sozusagen als europäische Filialen in Übersee, als verstreute Verwandte, mit denen man zurückhaltenden Umgang pflegte. Schwarze Kicker in Brasilien, Nachfahren eingeschleppter Sklaven, galten dagegen lediglich als talentierte Exoten; in einem Funktionärsamt waren sie nicht vorstellbar, auch nicht in den Augen der brasilianischen Verbandsführung selbst.

In Afrika und Asien sah dies anders aus. Dort entstanden immer mehr Nationalteams, in denen keine Spieler europäischer Abstammung spielten, sondern eben Afrikaner oder Asiaten. Das Gleiche galt für die Funktionäre. Der Prozess fortschreitender Dekolonialisierung, der sich darin ausdrückte, war für ein Commonwealth-Geschöpf wie Sir Stanley Rous offenbar nur schwer zu akzeptieren, und soweit es ging, hielt man die Neulinge auf Abstand.

1966: Afrikanischer Boykott

Als Mitte 1964 der FIFA-Kongress tagte, wurden 23 afrikanische Länder neu aufgenommen. Mittlerweile existierten in Afrika bereits 35 nationale Fußballverbände, zwei mehr als in Europa. In Asien waren es immerhin 30. Die Machtverhältnisse innerhalb des Weltverbandes begannen sich allmählich zu verschieben. Ein Beispiel dafür ist der Beschluss auf dem FIFA-Kongress, die Mitgliedschaft des Apartheid-Landes Südafrika zu suspendieren und seine Kicker somit auch von der WM auszuschließen. 

Zur bevorstehenden WM 1966 in England meldeten sich nicht weniger als 15 afrikanische Länder: Algerien, Ägypten, Äthiopien, Gabun, Ghana, Guinea, Kamerun, Liberia, Libyen, Mali, Marokko, Nigeria, Senegal, Sudan und Tunesien. Beim Qualifikationsverfahren konnte sich allerdings noch einmal das FIFA-Establishment in Gestalt des WM-Organisationskomitees durchsetzen, das die Spielregeln bereits vor dem 1964er Kongress festgelegt hatte: Unter den 16 Endrunden-Teilnehmern, so sein Plan, war wieder nur ein einziger Platz für sämtliche Bewerber aus Afrika, Asien und Ozeanien vorgesehen.

Aus Afrika gab es Proteste und Boykott-Drohungen, doch die FIFA-Führung blieb stur. Nun hatten die Afrikaner genug. Nach und nach zogen sämtliche gemeldeten Verbände ihre Teilnahme zurück. Von den Bewerbern außerhalb Europas und Amerikas blieben nur noch Nordkorea und Australien übrig. In den Qualifikationsspielen setzte sich Nordkorea durch, durfte nach England fahren und sorgte dort für eine Sensation, weil es in der Vorrunde Italien besiegte und aus dem Turnier warf.

Der Eklat um die benachteiligten afrikanischen Verbände war übrigens im europäischen Fußball kein großes Thema. In den Medien wurde es lediglich am Rande vermerkt, auch der „Kicker“ brachte nicht mehr als eine lapidare, unkommentierte Meldung, dass die afrikanischen Verbände ihre Anmeldung zurückgezogen hätten. In einem WM-Rückblick des renommierten „Sportinformationsdienstes“ (sid) hieß es über die „geschlossene Front“ der Afrikaner, sie habe „allerdings sportlich nicht die geringste Bedeutung“. 

Torschützenkönig des Turniers von 1966 wurde mit neun Treffern übrigens Eusebio, geboren in Portugiesisch-Ostafrika, heute Mozambique. Er verstärkte die Nationalelf, die für die Kolonialmacht seines Geburtslandes antrat, Portugal, und wurde mit ihr WM-Dritter.

Der afrikanische Boykott zeigte eine gewisse Wirkung. Bei den folgenden Turnieren erhielten Afrika und Asien/Ozeanien jeweils einen festen Startplatz zugeschrieben. Wenig genug. Erst die Erweiterung des Teilnehmerfeldes auf zunächst 24, später 32 Mannschaften verschaffte ihnen mehr Raum. Mittlerweile sind es jeweils fünf Teams aus Afrika sowie aus Asien/Ozeanien, die zur Endrunde fahren dürfen.

 

Bernd Beyer