WM 1970 – Emanuel Schaffers langer Weg
Die WM-Endrunde 1970, die vor 50 Jahren in Mexiko stattfand, war die erste bisher einzige, an der Israel teilnehmen konnte. Mitverantwortlich für die erfolgreiche Qualifikation war auch das Wirken ihres legendären Trainers Emanuel Schaffer.
Boykottaktionen gegen Israel
Die politischen Konfrontationen zwischen dem jungen jüdischen Staat und den islamisch geprägten Nachbarländern hatten nach 1945 auch den Fußball überschattet und bei den WM-Qualifikationsrunden zu oftmals abstrusen Situationen geführt. 1958 hatten sich sämtliche Gegner aus dem asiatischen und arabischen Raum geweigert, gegen Israel anzutreten, weshalb die Nivchéret zu zwei Entscheidungsspielen gegen Wales antreten musste, in denen sie ausschied. 1962 kreierte die FIFA eine eigene Minigruppe mit Zypern und Äthiopien, in der sich Israel zwar durchsetzte, danach aber gegen das übermächtige Italien antreten musste. Vier Jahre später wurde das Land – wie bereits 1954 – einer europäischen Qualifikationsgruppe zugeschlagen, in der es in vier Spielen vier Niederlagen kassierte.
Für das Turnier 1970 wiederum kamen die Qualifikationsgegner aus Ozeanien. Gegen Neuseeland sowie Australien konnten die Israelis sich tatsächlich durchsetzen, während sie vier Jahre später, nun abgeordnet zu einem fernöstlichen Ausscheidungsturnier in Seoul, an Südkorea scheiterten. Als danach der asiatische Fußballverband auf Betreiben verschiedener arabischer Nationalverbände Israel endgültig von seinen Wettbewerben ausschloss, orientierten sich die geächteten jüdischen Fußballer Richtung Europa. Seither kicken sie unter den Fittichen der UEFA.
Für die hehre Idee eines völkerverbindenden Fußballs, der religiöse und ethnische Schranken umdribbeln soll, sind diese Vorgänge nicht gerade ein überzeugender Beweis. Aber es gibt noch eine andere Geschichte, und die erzählt das Leben des Emanuel Schaffer, jenes jüdischen Nationaltrainers, der im Jahr 1970 seine Nivchéret nach zur WM-Endrunde in Mexiko führte.
Recklinghausen – Galizien – Kasachstan – Israel
Schaffer wurde 1923 im polnischen Drohobycz geboren, einem kleinen galizischen „Shetl“, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war. Noch in seinem Geburtsjahr übersiedelte die Familie ins Ruhrgebiet, zunächst nach Marl, dann nach Recklinghausen, wo Schaffer deutschsprachig und in bürgerlichen Verhältnissen aufwuchs. „Eddy“, wie ihn seine deutschen Freunde riefen, war schon als Junge fußballverrückt.
Nach der Machtübernahme der Nazis und angesichts antisemitischer Repressionen in Recklinghausen emigrierten die Schaffers zunächst ins französische Metz, dann ins (noch nicht deutsche) Saarland und kehrten schließlich nach Drohobycz zurück. Emanuel besuchte dort eine Mittelschule und trat einem jüdischen Fußballverein bei. Die galizische Heimat der Schaffers geriet 1939 aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes in den sowjetischen Machtbereich. Als die deutsche Wehrmacht zwei Jahre später ihr „Unternehmen Barbarossa“ begann und auch Drohobycz zu überrollen drohte, beschloss der nun 18-jährige Emanuel, gemeinsam mit anderen Jugendlichen nach Osten zu fliehen. Auf abenteuerlichen Wegen gelangte er über Aserbaidschan schließlich bis Kasachstan, wo er in einem Arbeitslager für Flüchtlinge landete. Dort blieb er bis Kriegsende und spielte, wie er dem israelischen Historiker Moshe Zimmermann erzählte, Fußball in der Lagermannschaft. In dieser Zeit erreichte ihn die Nachricht, dass die Nazis seine Familie – Eltern und drei Schwestern – in ein Ghetto geschafft und ermordet hatten. Auf welche Art dies geschehen war, konnte er auch später nicht mehr ermitteln.
Nach dem Kriegsende wurde Schaffer in Schlesien angesiedelt, in Bielawa nahe Breslau, wo er sich wieder einem jüdischen Fußballverein anschließen konnte und sein Talent bewies: Als einziger Jude wurde er in die niederschlesische Auswahl berufen. Seine Karriere endete vorerst, als die stalinistische Regierung das jüdische Vereinswesen verbot. Schaffer beschloss, nach Israel auszuwandern. Bevor ihn ein Einberufungsbefehl zur polnischen Armee erreichte, gelang ihm die Flucht über Tschechoslowakei, Österreich und Italien in den Nahen Osten. Dort spielte er für den Erstligisten Hapoel Hafen Haifa und schaffte es in die Reserve-Nationalelf. Mit 31 Jahren begann er eine Karriere als Trainer.
Bis zu diesem Zeitpunkt handelte es sich bei Schaffer, wie Zimmermann anmerkt, „um die exemplarische Fußballerkarriere eines Diasporajuden, der das Zeitalter der Lager und der Shoah bewusst erlebt und sich am Ende für die zionistische Lösung entschied“. Bemerkenswert war, was dann geschah. Schaffer beschloss, seine Trainerausbildung ausgerechnet in dem Land zu absolvieren, aus dem die Mörder seiner Familie stammten. Damals gab es nur vereinzelte Kontakte zwischen deutschen und israelischen Institutionen; bis 1956 trugen israelische Reisepässe auf der ersten Seite noch den Stempel „Alle Länder – mit Ausnahme Deutschlands“.
Doch Schaffer, der gut Deutsch sprach, war der Überzeugung, dass er seine Fußballkenntnisse im Land des 54er Überraschungsweltmeisters am besten erweitern könnte. 1958 kam er an die Sporthochschule Köln zu einem knapp einjährigen Lehrgang, der von Hennes Weisweiler geleitet wurde. Mit ihm schloss Schaffer eine Freundschaft, die jahrzehntelang halten sollte. Fortan wurde Schaffer „zum Verbindungsmann zwischen dem deutschen und israelischen Fußball“ (Zimmermann) und zum Pionier einer im Sport begründeten Verständigung.
„Das Tor stand in Richtung Jerusalem“
Am 12. August 1969, Schaffer war inzwischen Nationaltrainer, trat erstmals eine israelische Nationalmannschaft in Deutschland an und wurde von Weisweilers „Fohlenelf“ mit 3:0 besiegt. Die beiden Freunde hatten diese historische Begegnung arrangiert. Wenige Monate vor dem WM-Turnier in Mexiko, im Februar 1970, kam Borussia Mönchengladbach als erste deutsche Mannschaft zum Gegenbesuch nach Israel – ein Vorgang, der dort schon deshalb honoriert wurde, weil das Land und seine Besucher seinerzeit massiv von Terroraktionen bedroht waren. Aus Sicherheitsgründen reisten die Gladbacher in einer Bundeswehrmaschine an, an der die Hoheitszeichen überklebt worden waren. Diesmal besiegten Netzer und Co. ihre Gastgeber sogar mit 6:0 und wurden für ihre berauschende Spielweise, wie sich der dreifache Torschütze Herbert Laumen erinnert, „mit stehenden Ovationen verabschiedet“.
Dies war der Beginn eines intensiven Sportaustauschs zwischen beiden Ländern. Hunderte Begegnungen zwischen deutschen und israelischen Mannschaften haben seitdem stattgefunden, allein Mönchengladbach bestritt 24 Testspiele gegen israelische Teams und verpflichtete mit Shmuel Rosenthal den ersten israelischen Profi in der Bundesliga. Viele der rund hundert Städtepartnerschaften zwischen beiden Ländern haben ihren Ursprung in diesen sportlichen Begegnungen.
Trotz der Klatschen gegen die „Fohlen“ verfügte Israel damals durchaus über eine starke Nationalelf. Schaffer hatte sie 1968 bereits zum olympischen Fußballturnier geführt (dazu reichten zwei Siege gegen Ceylon; die übrigen Qualifikationsgegner Iran, Indien und Burma boykottierten Israel) und dort nur knapp das Halbfinale verpasst. Den größten Teil seiner Spieler kannte Schaffer bereits aus seiner erfolgreichen Zeit als Trainer der Jugend-Nationalmannschaft, mit der er dreimal Asienmeister geworden war.
Beim WM-Turnier in Mexiko schlug sich die Nivchéret achtbar, verlor zwar gegen den späteren WM-Vierten Uruguay mit 0:2, holte aber gegen die starken Italiener und Schweden jeweils ein Unentschieden. Beim 1:1 gegen Schweden erzielte Spielmacher Mordechai Spiegler den bisher einzigen Treffer in Israels WM-Geschichte. „Es waren 25 Meter, ein starker Rückenwird, und das Tor muss in Richtung Jerusalem gestanden haben“, ulkte Spiegler. Der Torschütze avancierte zum Nationalheros, bezeichnete aber seinen Trainer als „wahren Vater unseres Erfolgs“. Israels WM-Teilnahme 1970 wird in ihrer Wirkung auf das Selbstwertgefühl des jungen Staates zuweilen mit dem bundesdeutschen „Wunder von Bern“ verglichen.
Schaffer blieb eine geachtete Persönlichkeit in Israel und trainierte die Nationalelf nochmals von 1978 bis 1980, ohne die großen Erfolge wiederholen zu können. Danach reüssierte er als Geschäftsmann, um sich 1990 als 67-Jähriger ins Privatleben zurückzuziehen. Am 30. Dezember 2012 ist er kurz vor seinem 90. Geburtstag gestorben. Bei der Beerdigung sagte Avi Luzon, der Präsident des israelischen Fußballverbands, über Schaffer: „Er war der größte Trainer, den wir je hatten.“
Zur Person Emanuel Schaffer erscheint zum Frühjahr 2021 im Verlag Die Werkstatt eine Biographie von Lorenz Pfeiffer und Moshe Zimmermann, die der Autor dieses Textes dankenswerterweise bereits einsehen konnte
Bernd Beyer