WM 1974 und 2006 – Schwarz-rot-goldene Gastgeber

Die WM-Turniere 1974 und 2006 fanden in der Bundesrepublik Deutschland statt. Die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterschieden sich bei diesen Turnieren gewaltig. Und auch vom Augenschein her war es komplett anders: Während es 1974 außerhalb der Stadien kaum größere Menschenansammlungen gab, bei denen die Begegnungen gemeinsam verfolgt wurden, schon gar nicht in Nationaltracht – den Begriff „Public Viewing“ gab es noch nicht –, so schien 2006 das ganze Land in schwarz-rot-goldene Feierlaune getaucht zu sein. Was steckt hinter diesen Unterschieden?

Ein Gentleman und ein Rebell

Dem WM-Sieg von Bern 1954 wird in der historischen Forschung eine stark identitätsstiftende Wirkung zugeschrieben. Das durch Faschismus, Holocaust und Weltkrieg schuldbeladene Land hatte von den West-Alliierten ein Demokratieprogramm verordnet bekommen, das zusammen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung eine gewisse Normalität herbeigeführt hatte. Doch es war eine „synthetische Demokratie“, die die Herzen ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht unbedingt erreichte. Der WM-Titelgewinn 1954, so der Zeithistoriker Arthur Heinrich, „trug erheblich dazu bei, dass die Demokratie von den Westdeutschen angenommen wurde. Das Wunder von Bern war ein Wunder zur rechten Zeit.“

Dieser Identifikationsprozess bildete die Voraussetzung, sich die Demokratie zu eigen zu machen und „schließlich deren Liberalisierung in Angriff zu nehmen“ (Heinrich). Zwei Jahrzehnte später waren die Früchte dieser Liberalisierung auch in der Fußball-Nationalmannschaft zu bewundern. Als Bundestrainer fungierte nicht mehr der autoritäre Sepp Herberger, sondern der liberale Helmut Schön, und auf dem Platz stand nicht eine (auf den Trainerwillen) eingeschworene Elf-Freunde-Gemeinschaft, sondern elf Individualisten, die sich für 90 Minuten zum gemeinsamem „Teamwork“ zusammenfanden.

Am deutlichsten wurde dies beim Gewinn der Europameisterschaft 1972, als die Mannschaft einen mitreißend ästhetischen Fußball zelebrierte, bei dem der „Gentleman am Ball“ Franz Beckenbauer und der „Rebell am Ball“ Günter Netzer den Taktstock schwangen. (Die beiden Bezeichnungen sind zeitgenössische Buchtitel über die beiden.)

Im gleichen Sommer 1972 begannen in München die (so angekündigten) „heiteren“ Olympischen Spiele. Mit Olympia und der WM 1974 waren der Bundesrepublik erstmals nach Krieg und Faschismus wieder große Sportereignisse zugesprochen worden, was auch einen politischen Durchbruch bedeutete. Im Zeichen der Brandt’schen Entspannungspolitik und in bewusster Abgrenzung zu den martialischen Spielen von 1936 wollte sich das Gastgeberland in olympischer Architektur und Organisation entspannt, demokratisch und weltoffen präsentieren. Das gelang weitgehend – bis der Überfall palästinensischer Terroristen die „heiteren Spiele“ jäh beendete. Bei der WM 1974 sah die Bundesregierung ihre Gastgeberrolle dann vor allem darin, ihre Gäste vor neuerlichen Terrorakten zu schützen. Polizei war allgegenwärtig.

1974: Der „Geist von Malente“

Sportlich allerdings erwartete ein großer Teil des westdeutschen Fußballvolks bei der WM sowohl den Titelgewinn wie auch eine Fortsetzung der begeisternden Gala-Vorstellungen von 1972. Diese Haltung artikulierte sich als Forderung an die Mannschaft; es war die Erwartung eines Konsumenten und keine Angelegenheit, bei der Spieler und Fans in einem Boot saßen. Man sah den Titelgewinn nicht als politisches Prestigeprojekt. Besonders kühne (und meist junge) Geister favorisierten statt der DFB-Elf sogar die hippen Holländer um Johan Cruyff oder die Samba-Kicker aus Brasilien.

Entsprechend nörgelig war zunächst die Stimmung bei den ersten Spielen auf den Rängen, als es keine Zaubereien à la 1972 zu sehen gab. Nur 1:0 beim Auftakt gegen Chile? Pfeifkonzert! (und auf den Rängen wenig Schwarz-rot-gold, dafür Transparente gegen die faschistische Junta in Chile). Nur 2:0 gegen Australien in Hamburg? Pfeifkonzert! (und ein wütender Beckenbauer, der beleidigt Richtung Publikum rotzt). Die 0:1-Niederlage gegen die DDR? Natürlich Pfeifkonzert.

Zur Distanz gegenüber der Mannschaft hatten eine ganze Reihe von Faktoren beigetragen. Da war der Bundesliga-Skandal, der nur wenige Jahre zurücklag und den gesamten deutschen Profifußball diskreditiert hatte. Da waren die Äußerungen von Leistungsträger wie Beckenbauer, Breitner oder Netzer, die trocken wissen ließen, man spiele doch nicht für den Adler auf der Brust, sondern jeder für sich selbst. Ans Mitsingen der Nationalhymne dachte eh niemand. 

Auch herrschte im Trainingslager Malente ein ganz anderer Geist als der mythische „Geist von Spiez“ anno 1954. Vielmehr moserte man über die strenge Kasernierung und feilschte derart kräftig um eine (durchaus angemessene) Siegprämie, dass der entnervte Helmut Schön mit Abreise drohte. Die betont individualistische und hedonistische Haltung der Profis passte zur politischen Landschaft der Bundesrepublik, wo die erste Euphorie der sozialliberalen Reformpolitik einer gewissen Ernüchterung gewichen war und statt des Visionärs Willy Brandt nun der „Macher“ Helmut Schmidt regierte (den Fußball sowieso nicht interessierte). Aber in den Medien und bei den Zuschauern kam diese Haltung nicht gut an.

Das änderte sich erst, als Schön und Beckenbauer nach dem Debakel gegen die DDR den Spielstil der Mannschaft änderten. Statt siegesbewusster Lässigkeit – die allerdings eher pomadig gewirkt hatte – setzte man nun auf Kampfkraft und verstärkte Defensive. „Terrier“ Berti Vogts wurde zur neuen Leitfigur. So erreichte man wieder den Schulterschluss mit den Rängen: Wenn schon nicht „schön“ gespielt wurde, dann wurde wenigstens gekämpft. Dass man damit Weltmeister wurde, lag zwar wesentlich an der Dusseligkeit der Holländer. Die waren eigentlich besser. Aber sie hatten eben „nicht richtig gekämpft“.

Die Haltung des Publikums definierte sich nicht über seinen Patriotismus, sondern über sein Verhältnis zu den Spielern und deren Auftritten. Der Titelgewinn war ein sportliches Projekt, kein nationales. Helmut Schmidt wäre es nicht im Traum eingefallen, die siegreichen Spieler in ihrer Kabine aufzusuchen. Diese Haltung unterstrich auch die Berichterstattung in den Medien. Von „wir“ und „unser“ war in den Zeitungen nicht die Rede, wenn über die DFB-Elf gesprochen wurde, fand eine spätere Studie heraus. Lediglich die „Bild“ tobte nach der Niederlage gegen die DDR von einer „Blamage“, nachdem sie selbst zuvor die Begegnung zum innerdeutschen Kulturkampf ausgerufen hatte. Damit stand sie ziemlich alleine, nur beim Spiel selbst brüllten manche Anhänger das „Deutschland“-Stakkato besonders laut. Dieser auch bei anderen Spielen übliche Anfeuerungsruf wirkte gegen die DDR „wie ein zum Schlachtruf gewordener Alleinvertretungsanspruch“ („SZ“). Nach Sparwassers Tor wurde es dann merklich leiser.

Ansonsten befand die „FR“ seinerzeit: „Nationalistische oder gar chauvinistische Unmäßigkeit war selten.“ Und die Historikerin Christiane Eisenberg resümierte: „Vor dem Hintergrund der Entspannungspolitik (…) waren nationalistische Äußerungen jeder Art verpönt. Ebenso wie das Publikum eine dem Finale vorangehende Niederlage gegen die DDR klaglos hinnahm, entfachte auch der glückliche Titelgewinn keine Leidenschaften.“

2006: Party-Patriotismus?

Man mag sich kaum ausmalen, welche Leidenschaften ein Titelgewinn 32 Jahre später entfacht hätte, wo doch schon der dritte Platz einen Jubelorkan auslöste. Allerdings galt Klinsmanns Team vor dem Turnier nicht als heißer Titelkandidat. Vielmehr fürchtete man nach dem blamablen Abschneiden bei der EM zwei Jahre zuvor nichts mehr als eine neuerliche Pleite.

Die Voraussetzungen beim Turnier 2006 unterschieden sich nicht nur sportlich wesentlich von 1974. Deutschland war jetzt wiedervereint und galt international nicht nur wirtschaftlich als Macht, sondern auch politisch. Der Anschluss der DDR hatte nationale Emotionen mobilisiert, die im Ausland gewisse Besorgnisse auslösten. Diese wurden verstärkt durch eine Reihe fremdenfeindlicher Ausschreitungen. Den Vorbehalten versuchte die Bundesregierung auf internationalem Parkett mit verbaler Zurückhaltung und einer Charme-Offensive entgegenzuwirken. Und dafür wurde auch der Sport eingespannt.

Fußball, Politik und Wirtschaft, die „Deutschland AG“, gingen mit der WM ein Bündnis ein, für das wesentlich die Fußballfreunde Schröder und Fischer standen, also Kanzler und Außenminister, nebst dem weltweit populären Kaiser Beckenbauer. Das Turnier sollte die neue Berliner Republik global präsentieren, mit einem sympathischen Gesicht, das sich auch im WM-Motto ausdrückte: „Die Welt zu Gast bei Freunden.“

Die politische Zwiespältigkeit bildete sich auch unter den Fans ab. Kaum jemand konnte sich der schwarz-rot-goldenen Euphorie entziehen, die von den Fanmeilen ausging und gesamtdeutsch ins letzte thüringische Dorf schwappte. Eine gewaltige Einheitsfeier, die – unter anderen Voraussetzungen – ein wenig an die Gefühlslage nach dem „Wunder von Bern“ erinnerte. Neuentdeckter Patriotismus spielte dabei sicherlich ebenso eine Rolle wie der Wunsch, sich der Welt als guter Gastgeber mit einem gelungenen Fußballfest zu präsentieren. Dieses Mal war das Turnier tatsächlich ein nationales Projekt, in das sich die Fans aktiv eingebunden sahen. Der Erfolg der eigenen Mannschaft war dabei zwar nicht nebensächlich, aber deutlich weniger wichtig als 1974. Selbst knappe Vorrunden-Siege – wie das 1:0 gegen Polen – lösten gewaltige Euphoriewellen aus. 32 Jahre zuvor hätte man sie eher mürrisch zur Kenntnis genommen.

Seither rätseln Sozialwissenschaftler darüber, ob die massenhafte Präsenz nationaler Symbolik bei diesem und späteren Turnieren auf politische Normalität hindeutet, auf einen „unverkrampften Patriotismus“, oder eher auf einen unangenehmen Nationalismus. Für den Münsteraner Sportwissenschaftler Dieter Jütting ist die Sache klar: „Dies Phänomen wurde (2006) von einigen politischen Beobachtern und Politikern nach dem bekannten Rechts-Links-Schema falsch gedeutet. Es auch in relativierender Weise mit einem neuen Nationalismus oder einem Nationalismus light in Verbindung zu bringen, halten wir für fraglich. Vielmehr gehört es in eine um den Fußball herum inszenierte Sekundärwelt der imaginären Stellvertretung und projektionsgeleiteten Identifikation mit der kämpfenden Mannschaft.“

Soll wohl sagen: Man will einfach zeigen, dass man zu seiner Mannschaft hält. So, wie der Schalker Fan sich in Königsblau einhüllt.

Andere sind da deutlich skeptischer. Die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy befragte bei den WM-Turnieren 2006 und 2010 sowie bei der EM 2008 die Teilnehmer*innen von Fanmeilen. Ergebnis laut „SZ“: „Motive der Fans seien ausdrücklich Vaterlandsliebe und Nationalstolz, der Sport selbst landete eher auf dem hinteren Platz.“ Und für den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer ist der deutsche „Party-Patriotismus“ „nichts anderes als Nationalismus“. Die Bielefelder Forscher veröffentlichten schon 2006 zusammen mit Marburger Kollegen eine Studie, die bewies, dass die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland nach der WM nicht geringer war als zuvor. „Vielleicht war die Welt während der Weltmeisterschaft tatsächlich zu Gast bei Freunden“, erläuterte Heitmeyer. „Aber danach war es damit wieder vorbei.“

Schediwys zeitlich übergreifende Studie zeigt das eigentliche Problem: Mit der Zeit, so stellte die Forscherin fest, „empfanden die Fans gerade den Nationalstolz zunehmend als natürlich.“ Aus einer gruppendynamischen Laune heraus wird das Gesicht schwarz-rot-gold geschminkt. Mit der Zeit wird es selbstverständlicher, sich national zu gebärden. Und am Ende, beispielsweise in ökonomisch schwierigen Zeiten, wird Nationalstolz zu einem Identitätsanker, der sich gegen „Fremde“ und „Andere“ richtet. Die AfD weiß davon zu profitieren. Das muss nicht sein, ist aber eine große Gefahr, sofern sich Patriotismus nicht bewusst über demokratische, tolerante und liberale Errungenschaften definiert. 

Dass Fans anderer Nationalmannschaften sich bei internationalen Turnieren ähnlich präsentieren, kann kein Trost sein. Was soll gut daran sein, dass sportliche Ereignisse immer stärker mit nationaler Symbolik aufgeladen werden – gerade in einer Zeit, in der Nationalismus allenthalben hochkocht? 

P.S.

„Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig!“ (Gustav Heinemann, Bundespräsident 1969 bis 1974)

„Sie haben in Ihrer Antrittsrede gesagt: ‚Ich liebe unser Land.‘ Sind Sie stolz, Deutscher zu sein?“ „Ja, ich bin stolz auf dieses Land.“ (Horst Köhler, Bundespräsident 2004 bis 2010, in einem Interview mit der „Bild“)


Bernd Beyer