WM 1998 (II) – DIE BLUTTAT VON LENS

Es passiert am 21. Juni 1998, einem Sonntag. Im Félix-Bollaert-Stadion von Lens, wird um 14.30 Uhr die Vorrundenpartie Deutschland gegen Jugoslawien angepfiffen; Lothar Matthäus bestreitet seine 22. WM-Partie und stellt damit einen Weltrekord auf. Doch das wird unwichtig sein am Ende des Tages.

 

Deutsche Hooligans randalieren

Ein Kilometer vom Stadion entfernt, in der Innenstadt von Lens, braut sich Ungutes zusammen. Schon seit dem Vormittag haben Polizeibeamte voll Sorge beobachtet, dass deutsche Hooligans in der Stadt eintreffen, sich am Bahnhof herumtreiben, Alkohol trinken. 641 Personen wird man am Ende gezählt haben, die in Deutschland als Hools mit besonders hoher Gewaltbereitschaft registriert sind und sich an diesem Tag in Lens aufhalten. Es herrscht eine aggressive Stimmung, es kommt zu Handgreiflichkeiten. 

Die Situation ist unübersichtlich, den ganzen Vormittag über ist das Zentrum der Kleinstadt überlaufen; 41.000 Zuschauer werden zu dem Spiel erwartet, 20.000 weitere sind in der Hoffnung gekommen, noch eine Eintrittskarte zu ergattern. Doch freie Karten gibt es nicht mehr, und wenn, sind sie auf dem schwarzen Markt absurd überteuert. In der überfüllten Fußgängerzone suchen die Menschen nach Gelegenheiten, das Spiel im Fernsehen zu verfolgen. Dort, wo Hooligans dabei sind, fliegen Flaschen, gehen Scheiben und Stühle zu Bruch. Als ein Wirt den Fernseher schon zehn Minuten vor Abpfiff des Spiels ausschaltet, wird sein Restaurant regelrecht auseinandergenommen.

 

Lebensgefährlich verletzt

Nach Spielende setzen sich Gruppen gewaltbereiter Deutscher in Bewegung, halten nach englischen oder jugoslawischen Hools Ausschau, mit denen sie sich prügeln wollen. Massive Polizeieinsätze verhindern das an verschiedenen Stellen. Doch sie können nicht überall mit starken Kräften präsent sein. Als eine Gruppe deutscher Hools die stille Rue Pruvost entlangzieht, sieht sie sich lediglich drei französischen Polizeibeamten gegenüber. Etwa sieben Gewalttäter gehen sofort auf sie los, zwei Polizisten können zurückweichen, doch Daniel Nivel stürzt aufs Pflaster und verliert dabei seinen Helm. Er muss schwere Schläge und Fußtritte einstecken; einer der Hools hat sich den Aufsatz von Nivels Gewehr geschnappt und schlägt damit wild auf den Wehrlosen ein. Die Schläger lassen erst von ihm ab, als einer der anderen Polizisten eine Tränengrasgranate abfeuern kann.

Nivel hat lebensgefährliche Verletzungen erlitten, dauerhafte Schädigungen am Hirn, er liegt lange im Koma und wird fortan auf Pflege angewiesen sein. Nie zuvor hat es bei einer Fußball-Weltmeisterschaft einen vergleichbar gezielten Gewaltakt gegeben, nie zuvor wurde vorsätzlich eine solch ungezügelte Aggressivität ausgeübt. Es ist ein abscheulicher Kontrapunkt zum friedlich-fröhlichen Anspruch eines globalen Fußballfestes, zum munteren Auftreten der Multi-Kulti-Mannschaft von Gastgeber Frankreich, zu der erfreulichen Entwicklung, dass dieses Turnier mehr Teams aus aller Welt zusammengebracht hat als je eine WM zuvor.

 

Ein Schock und die Folgen

In Deutschland ist man geschockt. Der Fernsehjournalist Tibor Meingast, der die Tat und ihre Folgen intensiv recherchiert hat und ein Buch darüber veröffentlichte, beobachtete aber auch Zwiespältiges: „Politiker geißeln die grausamen Tat, die Welle der Empörung ist groß, das Verbrechen betrifft jetzt die ganze Republik. Aber keine Staatsanwaltschaft in Deutschland will den mit großem Fahndungsaufwand verbundenen Fall übernehmen.“ Erst sechs Tage nach der Tat wird in Hannover eine spezielle Fahndungsgruppe eingerichtet.  Aus ihren Ermittlungen resultieren in den folgenden Jahren zahlreiche Prozesse; verurteilt werden Täter, die an dem Gewaltakt gegen Nivel oder anderen Exzessen in Lens beteiligt waren. 

Doch lange Zeit ist der Haupttäter nicht gefunden – jener Mann, der auf Nivel einschlug, als der wehrlos am Boden lag. Dass er schließlich überführt und wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt wird, ist dem Mut des Sozialarbeiters Burkhard Mathiak zu verdanken, der im Schalker Fanprojekt tätig ist. Er hat ihn auf jenem berühmten Foto, das von der Tat veröffentlicht wurde, als einen seiner Klienten erkannt und stellt sich als Zeuge zur Verfügung – im Bewusstsein, dass dieser Schritt die eigene berufliche Existenz zerstört, ihm ernste Bedrohungen an Leib und Leben einträgt und ihn und seine Familie vorübergehend zum Untertauchen zwingt. Die Aussage „hat besser zu mir gepasst, als wenn ich nichts gesagt hätte“, zitiert ihn Tibor Meingast in seinem Buch „Der Zeuge von Lens“. „Man muss doch auch mal die Interessen der Allgemeinheit vertreten.“

Seither hat sich die Polizeiarbeit intensiviert und der Sicherheitsstandard der großen Stadien erhöht, wurden Präventionsprogramme aufgelegt und bescheidene Mittel für Fanprojekte lockergemacht. Das Phänomen aggressiver Fangruppen im deutschen Fußball aber ist geblieben; manche Fachleute sprechen sogar von einer wachsenden Gewaltbereitschaft. Der Psychologie und Fanforscher Martin Thein sieht auch ein Versagen der großen Vereine: „Als Wirtschaftsfaktor werden die Zuschauer gerne angenommen, aber eben nicht, wenn sie Probleme machen. Dann heißt es, wir sind Fußballklubs und keine Sozialarbeiter, aber tatsächlich sind Vereine von ihrem Ursprung her soziale Gebilde. Man kann nicht nur die positiven Werte schöpfen, man muss sich auch um Fehlentwicklungen kümmern.“

Ein Beispiel könnte die Daniel-Nivel-Stiftung geben, die im Jahr 2000 mit einer Million Mark ins Leben gerufen wurde; die Hälfte davon kam aus Deutschland. Die Stiftung organisiert unter anderem Begegnungen zwischen Polizisten und Fanvertretern mit dem Ziel, Feindbilder abzubauen. Der ehemalige DFB-Präsident Theo Zwanziger hofft, „dass der Name Daniel Nivel auch national genutzt werden würde im Kampf des DFB gegen Diskriminierungen, Fremdenhass oder Gewalt“. Ein langer Atem dabei wäre von Vorteil.

Bernd Beyer

 

Bei diesem Text handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags aus dem „Goldenen Buch der Fußball-Weltmeisterschaft“, 2014 erschienen im Verlag Die Werkstatt.