WM 2010 – ERSTE WM IN AFRIKA
Für die WM 2010, die nach dem inzwischen wieder suspendierten Rotationsprinzip auf jeden Fall in Afrika stattfinden sollte, hatten sich neben Südafrika zunächst noch die vier nordafrikanischen Länder Marokko, Ägypten, Tunesien und Libyen beworben. Tunesien und Libyen verabschiedeten sich vorzeitig aus dem Rennen. Als das 24-köpfige FIFA-Exekutivkomitee am 15. April 2004 in Zürich über das Austragungsland 2010 entschied, stimmten die vier Afrikaner im Gremium geschlossen gegen die Republik am Kap.
Von allen Bewerbern verfügte Südafrika über die besten Voraussetzungen. Das Land verfügte über eine international wettbewerbsfähige Industrie und trug fast ein Drittel zum gesamten Bruttoinlandsprodukt Afrikas bei. Ähnlich wie Brasilien war Südafrika Erste und Dritte Welt zugleich, gleichwohl wurden die Vormachtstellung und der Führungsanspruch der Nation am Kap im Rest des Kontinents schon eine Zeitlang mit Argwohn betrachtet. Dort war man sich nicht sicher, ob Südafrika wirklich ein afrikanisches Land sei oder nur ein „Lakai“ des Westens. Noch Mitte der 1990er-Jahre hatte Nigerias damaliger Außenminister Südafrika als „ein weißes Land mit einem schwarzen Präsidenten“ charakterisiert.
Wirtschaftliches Sprungbrett für Expansionen
Es waren keineswegs altruistische Gründe, aus denen Afrika 2010 erstmals in den Genuss einer WM geriet. Der französische Soziologe Patrick Vassort, ein Experte für die Beziehungen zwischen Sport und Politik: „Aus kommerzieller Hinsicht ist die Weltmeisterschaft 2010 ein exzellentes Sprungbrett für die Expansion in den afrikanischen Markt, genau wie sie es 1994 für den amerikanischen und 2002 für die asiatischen Märkte war.“
Sofern die WM 2010 eine neue, verbesserte Stellung Afrikas im Weltfußball dokumentierte, war es eine domestizierte, instrumentalisierte Stellung, die sich auf die lokalen Fußball-Eliten beschränkt und von deren Kollaborationsbereitschaft abhängt. Blatters Votum für Südafrika und seine Bemühungen, die WM 2010 zu einem pan-afrikanischen Projekt zu deklarieren, dienten primär der langfristigen Sicherung seiner Machtbasis als FIFA-Präsident.
In Europa wurde die Wahl Südafrikas bis zum Anpfiff des Turniers durch die Brille des Afrika-Pessimismus betrachtet. Lange wurde angezweifelt, ob die WM überhaupt in Afrika stattfinden könne. Die Medien berichteten permanent von Problemen mit der Infrastruktur, Verzögerungen beim Bau der Stadien, von Aids und Kriminalität.
Flügel fürs Selbstbewusstsein
Schließlich mussten jedoch auch die größten Skeptiker einräumen, dass sie das Austragungsland grob unterschätzt hatten. Der Mehrwert, den diese WM für Afrika erzielte, ließ sich nicht in Dollar, Euro oder Rand berechnen – er ist eher politisch-psychologischer Natur. Bartholomäus Grill, Afrika-Korrespondent der Zeit:„Seit dem Ende der Kolonialherrschaft in den 1960er-Jahren gab es kein Ereignis, das das afrikanische Selbstbewusstsein mehr beflügelt hat.“ Grill entdeckte in Südafrika einen „Optimismus wie seit dem Untergang der Apartheid nicht mehr.“
Beim ersten Turnier auf dem afrikanischen Kontinent triumphierte Spanien. Spanien? Oder doch eher Katalonien? Im Finale jedenfalls liefen sechs Katalanen für „La Roja“ auf. Nach dem Schlusspfiff drehten zwei von ihnen, Xavi Hernández und Carles Pujol, ihre Ehrenrunde mit der Senyera, der Fahne dr autonomen Gemeinschaft Kataloniens. Einen Tag zuvor hatten in Barcelona Hunderttausende unter dem Motto „Adieu Espanya“ für katalanische Unabhängigkeit demonstriert.
Dietrich Schulze-Marmeling
Bei diesem Text handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags aus dem Buch „Boykottiert Katar 2022! – Warum wir die FIFA stoppen müssen“, 2021 erschienen im Verlag Die Werkstatt.