Menschenrechte im Fußball – Trikots, Schuhe und das alltägliche Elend
Die großen Sportartikelhersteller Adidas, Nike und Puma halten sich zugute, dass sie auch den Näher*innen in ihren asiatischen Produktionsstandorten den Mindestlohn zahlen. Das stimmt. Das Problem: Die Lebenshaltungskosten sind mehr als dreimal so hoch. So wird täglich bei der Herstellung von Fußbällen, Trikots und Schuhen hunderttausendfach Elend und Hunger reproduziert. Abhilfe wäre möglich, ist aber nicht gewollt.
Als der Guardian im Februar 2020 meldete, dass auf den WM-Baustellen in Katar 6.500 Menschen gestorben seien, war die Empörung groß. Zu Recht. Damals formierte sich eine Boykott-Bewegung, die sagte, sie habe keine Lust, einem Fußballturnier zuzuschauen, das auf einem Gräberfeld gespielt werde. Das machte in Deutschland einigen Eindruck, andernorts weniger und vielerorts gar keinen. Zu Letzteren gehört auch Zürich. Die dort ansässige FIFA zog nicht nur das Turnier in Katar durch, ohne mit der Wimper zu zucken, sondern sorgte bald darauf dafür, dass die WM 2034 in Saudi-Arabien stattfinden wird, wo es um Menschen- und Arbeitsrechte noch schlimmer bestellt ist als in Katar und wieder eine erkleckliche Zahl von Toten zu beklagen sein wird.
Nun, könnte man sagen, von der FIFA erwarte man schließlich auch nichts anderes (mehr). Da gehe es nur noch um Geld, Menschenrechte kämen nur auf dem Papier vor. Wer deshalb der großen Fußballbühne den Rücken kehrt und sich in die Niederungen des Amateurfußballs begibt, der kommt allerdings nur vom Regen in die Traufe. Jetzt nicht einmal wegen des rund um den Sportplatz in der Provinz auch anzutreffenden Rassismus und Sexismus. Sondern weil man auch unterklassig nicht nackt Fußball spielt. Und das ist ein Problem. Denn jedes Trikot, jede Trainingshose, jeder Stutzen und jeder Fußballschuh, die – allein in Deutschland – am Wochenende millionenfach übergestreift und geschnürt werden, werden unter erbärmlichen Bedingungen produziert. Und da spielt es keine Rolle, ob die Hersteller Adidas, Nike, Puma oder sonst wie heißen.
Aber bleiben wir mal bei Adidas. Kennt man, trägt man. Auch unter Kritiker*innen des Kommerzes im Fußball. Adidas ist der zweitgrößte Sportartikelhersteller der Welt. 2022 hat Adidas 419 Millionen Paar Schuhe hergestellt, 97 Prozent davon in Asien. Außerdem jährlich knapp eine halbe Milliarde Textilien, ebenfalls zum allergrößten Teil in Asien. Jeweils rund ein Fünftel kommen aus Kambodscha, Vietnam, China. Der Grund, warum Adidas vorwiegend in Asien produzieren lässt, ist so einfach wie schlagend: Der Monatslohn einer Näherin beträgt in Kambodscha umgerechnet rund 250 Euro, in Bangladesch 312 Euro. Adidas – wie auch Nike und Puma – brüsten sich damit, zu den guten Produzenten zu gehören und zumindest den in den jeweiligen Ländern geltenden Mindestlohn zu zahlen (in Kambodscha 185 Euro). Das bestätigen auch kritische Nichtregierungsorganisationen. Das Problem: Der gesetzliche Mindestlohn deckt nur einen Teil des existenzsichernden Lohns ab, in Kambodscha etwa 28 Prozent. Was heißt das?
Was ist ein existenzsichernder Lohn?
Ein existenzsichernder Lohn – von den Vereinten Nationen als Menschenrecht anerkannt – ist ein Lohn, der ausreicht, um Arbeiter*innen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Er sollte in einer Standard-Arbeitswoche von nicht mehr als 48 Stunden verdient werden können und muss Nahrung, Wasser, Unterkunft, Bildung, Gesundheitsversorgung, Transport und Kleidung abdecken. Außerdem sollte ein kleiner Teil des Gehalts zur freien Verfügung stehen und Ersparnisse ermöglichen.
Quelle: CI Romero (Hrsg.): Moral im Abseits, Dezember 2021, S. 24
Ein existenzsichernder Lohn ist nicht einfach zu berechnen. In Kambodscha beträgt er etwa 670 Euro pro Monat. Das heißt, wenn eine Näherin 250 Euro im Monat verdient, dann hat sie etwas mehr als ein Drittel dessen, was sie und ihre Familie zum Leben brauchen. Auch bei zwei Verdiener*innen in der Familie reicht das nicht zum Leben. Wenn ein Kind krank wird, muss sich die Familie entscheiden: Lebensmittel kaufen oder Medikamente. Die Folge: 40 Prozent der in der kambodschanischen Textilindustrie Beschäftigten haben noch einen zweiten Job (zusätzlich zu einer 48-Stunden-Woche plus Überstunden); drei von vier Beschäftigten sind mit durchschnittlich 30 Monatslöhnen verschuldet.
Das ist das alltägliche Elend all derjenigen, die die schönen Sachen mit den drei Streifen herstellen (oder für Nike, Puma etc.) – in Kambodscha, in Sri Lanka, in Indonesien, in China, in Bangladesch und anderswo. Ist das einfach so, ist das nicht zu ändern?
Schauen wir mal auf das Produkt. Ein Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer kostete zuletzt im Geschäft etwa 90 Euro. Von diesen 90 Euro entfallen 5,85 Euro auf die Produktion (Lohnkosten, Material, Zulieferer etc.). Der Löwenanteil mit 58,50 Euro (oder 65 Prozent) geht an die Händler und Zwischenhändler; beim Hersteller Adidas verbleibt immerhin noch ein Erlös von 26,10 Euro pro Trikot, davon 13,05 Euro Gewinn. Die Näherinnen bekommen von dem Produkt 1 Prozent als Lohn, also 90 Cent. Würden sie 2,50 Euro pro Trikot bekommen, also einen existenzsichernden Lohn, könnten sie und ihre Familie anständig leben. Wenn die Lohnsteigerung allein zu Kosten des Herstellers ginge, könnte Adidas nur 11,45 Euro statt 13,05 Euro für jedes Trikot als Gewinn einstreichen. Unvorstellbar? Für Adidas schon. Dort sieht man keinen weiteren Handlungsbedarf. Und bei den Akteuren auf dem Rasen in der Regel auch nicht, ebenso wenig wie bei den Angehörigen und den Fans auf den Rängen.
Und solange dies so ist, so lange wird es an jedem Wochenende in Deutschland – von der Bundesliga bis zur Kreisklasse, bei den Männern ebenso wie bei den Frauen, Jugendlichen und Kindern – nicht anders sein als bei den Weltmeisterschaften in Katar und Saudi-Arabien: Wir werden den Spaß an unserem Lieblingssport auf Kosten anderer haben. Nicht vergleichbar? Nein, sicher kein Gräberfeld, bloß ein Meer aus Schweiß und Tränen.
Quellen: Adidas: Geschäftsbericht 2023; Asia Floor Wage Alliance: Towards an Woman-Centred Living Wage Beyond Borders, Mai 2023; CCC/Artemisa Ljarja, April 2024; CIR/Sandra Dusch Silva: Moral im Abseits, Dezember 2021.
Grafik: AndreasHomann.de
Veranstaltung im Haus der Demokratie und Menschenrechte mit Artemisa Ljarja (l.) und Sithyneth Ry (2.v.r).
adidas: Der Fall Kambodscha
adidas ist Sponsor der EM und (noch) des DFB. Wir haben uns in unserem „Sponsor-Check“ bereits kritisch mit diesem angeblichen „Vorzeigeunternehmen“ beschäftigt, siehe:
https://www.fairness-united.org/sponsor-checks/adidas/
Das macht ausführlich auch eine sehenswerte Dokumentation der ARD:
Besonders schwere Vorwürfe gibt es im Fall Kambodscha. Ein Vertreter betroffener Arbeiter:innen dort prangerte bei einem Besuch in Deutschland den Lohnraub eines adidas-Zulieferers dort an. Wir unterstützten seine Veranstaltungen; unseren Bericht dazu siehe unten.
Über den Auftritt dieses kambodschanischen Gewerkschaftsvertreters berichtete ausführlich auch der Deutschlandfunk in folgender Sendung:
WM-Sponsor - Vorwürfe gegen Adidas in Kambodscha (deutschlandradio.de)
Lohndiebstahl bei adidas-Zulieferer in Kambodscha
Sportartikel sind ein Milliardengeschäft. Die großen Marken wie adidas, Nike oder Puma lassen aus Kostengründen einen Großteil ihrer Produkte in Südostasien herstellen – unter zumeist prekären Bedingungen für die Arbeiter:innen. Die gezahlten Mindestlöhne reichen bei Weitem nicht aus, die Existenz der Beschäftigten zu sichern.
Und dann kam 2020 auch noch die Covid-Pandemie: Allein in Kambodscha waren Hunderttausende in der Textilindustrie von Entlassungen, Aussperrungen, Kurzarbeit oder Lohnraub betroffen, davon in den acht Zulieferbetrieben von adidas mehr als 30.000. Sie fordern ausstehende Löhne und Abfindungen in Höhe von 11,7 Millionen US-Dollar ein – bis heute vergebens. Adidas erklärt, das Unternehmen sei dafür nicht zuständig.
Sithyneth Ry, Präsident der Gewerkschaft Independent Trade Union Federation, vertritt die Interessen der Arbeiter:innen von Hulu Garment, einem Betrieb in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, wo auch für adidas genäht wurde. Auch dort warten 500 Beschäftigte seit nunmehr vier Jahren auf die Zahlung von Abfindungen von rund einer Million US-Dollar.
Auf Einladung der Kampagne für Saubere Kleidung (Clean Clothes Campaign – CCC) kam Sithyneth Ry nach Deutschland, um auf der Hauptversammlung von adidas in Fürth am 16. Mai 2024 die Forderungen der ehemaligen Arbeiter:innen von Hulu Garment vorzutragen – ein weiteres Mal ohne Erfolg.
Gesellschaftsspiele e.V. und Fairness United nutzten die Gelegenheit, aus erster Hand mehr über den konkreten Fall zu erfahren, und luden Sithyneth Ry am 21. Mai zu einem Info-Abend ins Haus der Demokratie und Menschenrechte nach Berlin ein.
Hulu Garment, ein Betrieb in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, der adidas, Amazon, Walmart, Macy՚s und die LT Apparel Group beliefert, suspendierte Anfang März 2020 seine gesamte Belegschaft von 1.020 Beschäftigten, als die Covid-Pandemie die globalen Lieferketten zu treffen begann.
Als sich das Ende der Suspendierung näherte, rief die Unternehmensleitung die Arbeiter:innen am 22. April 2020 zusammen und teilte ihnen mit, dass die Fabrik aufgrund der Pandemie keine Aufträge habe und möglicherweise schließen müsse. Die Unternehmensleitung forderte die Beschäftigten außerdem auf, ein Dokument per Daumenabdruck zu unterschreiben, um das Entgelt für die Aussetzung der Arbeit (nur 40 % des regulären Monatslohns) und den nicht genommenen Jahresurlaub zu erhalten. Wenn sie nicht unterschrieben, so hieß es, könne das Geld nicht überwiesen werden.
Hunderte von Hulu-Garment-Beschäftigten unterschrieben das Dokument an diesem Tag, ohne zu wissen, dass sich unter ihrer Lohnabrechnung ein Vermerk befand, der besagte, dass sie damit kündigten. Am darauffolgenden Tag, als den Arbeiter:innen bewusst geworden war, dass ihr Arbeitgeber sie hinters Licht geführt hatte, indem er sie zur Unterzeichnung von Kündigungsschreiben verleitet hatte, um die Zahlung der ihnen bei einer regulären Entlassung gesetzlich zustehenden Abfindung zu vermeiden, protestierten mehr als 300 von ihnen. Sie forderten ihre Wiedereinstellung und setzten ihre Proteste die ganze Woche über fort. Einen Monat später wurde die Fabrik wiedereröffnet, aber die Hälfte der Belegschaft wurde nie wieder eingestellt. Ihre Forderungen nach Zahlung von Abfindungen (2.000 US-Dollar pro Person) sind bis heute nicht erfüllt worden.
Für adidas liegt kein rechtliches Fehlverhalten vor; außerdem sei die Zusammenarbeit mit Hulu Garment von vornherein befristet gewesen und bestehe seit August 2020 nicht mehr. Adidas weist daher alle Forderungen der ehemaligen Arbeiter:innen von Hulu Garment entschieden zurück.
Dass das „trickreiche“ oder um es deutlicher zu sagen: betrügerische Verhalten von Hulu Garment kein Einzelfall darstellt, machte Artemisa Ljara von CCC deutlich, die Sithyneth Ry begleitete und einen Überblick über die Situation der knapp 800.000 Arbeiter:innen in der kambodschanischen Textil- und Bekleidungsindustrie gab. In Kambodscha betragen die in diesem Sektor in der Regel gezahlten Mindestlöhne von 200 US-Dollar im Monat nur knapp ein Drittel dessen, was zur Existenzsicherung benötigt wird. 40 Prozent der Beschäftigten haben deshalb einen zweiten Job (zusätzlich zu einer 48-Stunden-Woche plus Überstunden), um über die Runden zu kommen. Meist wird bei den Ausgaben für Lebensmittel gespart, Rücklagen für Notfälle (Krankheit, Arbeitslosigkeit etc.) zu sparen ist nicht möglich. Drei von vier Arbeiter:innen sind verschuldet. Die 2.000 US-Dollar nicht gezahlter Abfindungen pro Person, um die es im Fall Hulu Garment geht, könnten wenigstens die Not dieser Betroffenen ein wenig lindern.
Obwohl die elenden Produktionsbedingungen in der Sportartikelindustrie (nicht nur bei adidas und nicht nur in Kambodscha) seit Langem bekannt sind, stoßen sie hierzulande bisher öffentlich auf wenig Interesse. Dies angesichts der weltweiten Popularität des Sports und seiner Markenhersteller einen Skandal zu nennen wäre wohl nicht übertrieben.
Der Berliner Info-Abend bildete den Abschluss einer kleinen Speaker՚s Tour von Sithyneth Ry; ähnliche Veranstaltungen hatten zuvor schon in Kooperation mit dem Kurt-Eisner-Verein/Rosa-Luxemburg-Stiftung Bayern in München und Fürth stattgefunden.
Offener Brief an adidas
Die Sportartikelfirma adidas ist einer der Hauptsponsoren für die EM 2024. Das ist problematisch, da angezweifelt wird, dass adidas seine Lieferketten fair gestaltet hat und Menschenrechte eingehalten werden. Es gibt beispielsweise Berichte, dass Arbeiter*innen einiger Zulieferbetriebe wochenlang Überstunden leisten müssen, gesundheitliche Schäden durch mangelnden Arbeits- und Gesundheitsschutz erleiden, Hungerlöhne erhalten, unter zu hoher Arbeitslast arbeiten, weshalb Pausenzeiten oft nicht eingehalten werden, und ihre Jobs verlieren, sobald sie sich gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen wehren.
Aus diesem Grund hat die Organisation “WEED e.V. / Sport handelt fair” einen Offenen Brief mit zahlreichen konkreten Forderungen an adidas verfasst. Darin heißt es u.a.: „Zur EM 2024 wünschen wir uns von Ihnen Maßnahmen, mit denen Sie uns zeigen, dass adidas sich ernsthaft auf den Weg macht, Arbeiter*innenrechte und Nachhaltigkeit im gesamten Produktionsprozess umzusetzen.“ Dieser Brief wird von zahlreichen Gruppen unterstützt, beispielsweise dem Forum Fairer Handel, der Romero-Initiative oder dem Eine Welt Netz in NRW. Aus dem Fußball-/Fanbereich unterstützen bisher folgende Gruppen die Initiative: Fairness United, Schalker Fan-Initiative, FC Ente Bagdad, Gesellschaftsspiele e.V.
Bitte tragt diese wichtige Initiative über eure sozialen Medien weiter.
Themen und Quellen zu adidas
Selbstauskunft: Konzernergebnisse 2023
Konzern-Gewinn-und-Verlust-Rechnung - adidas Geschäftsbericht 2023 (adidas-group.com)
Selbstauskunft Menschenrechte
https://www.adidas-group.com/de/nachhaltigkeit/soziale-auswirkungen/menschenrechte
Selbstauskunft Nachhaltigkeit und Lieferkette 2022
Global Operations - adidas Geschäftsbericht 2022 (adidas-group.com)
Dachverband Kritische Aktionärinnen und Aktionäre zu adidas
https://www.kritischeaktionaere.de/category/adidas/
Forderungen von Menschenrechtsaktivist:innen
Über Menschenrechtsverletzungen, Mindestlöhne und existenzsichernde Löhne in der Sportartikelindustrie
https://www.ci-romero.de/produkt/broschuere-sport/
Poverty wages — Clean Clothes Campaign
Über Arbeitskämpfe bei adidas-Produktionsstätte in Kambodscha
https://www.payyourworkers.org/hulu
https://www.workersrights.org/factory-investigation/hulu-garment-co-ltd/
Über Arbeitskämpfe in der Textilindustrie Bangladeshs (auch Adidas)
Zwangsarbeit in der Lieferkette?
Über die Zusammenarbeit von adidas und Kayne West
Nach Skandaläußerungen: Adidas beendet Kooperation mit Kanye West (handelsblatt.com)
Adidas-Aktie: Konzern hebt dank Yeezy-Abverkauf die Jahresprognose an (handelsblatt.com)
https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/adidas-geld-frisst-moral/
Über verweigerte Mietzahlungen in der Corona-Krise
Corona-Krise: Darf Adidas seine Miete nicht zahlen? - Wirtschaft - SZ.de (sueddeutsche.de)
Über Sportsponsoring
https://www.wuv.de/Themen/Marke/Milliardendeal-Adidas-bleibt-ManU-treu