Sommermärchen 2.0? – Anmerkungen zur Euro 2024
Die Euro-Party ist vorbei, und fast alle sind zufrieden. Außer den Rechten vermutlich, denen die heutigen diversen Nationalmannschaften ein Ärgernis sind. Philipp Lahm und Julian Nagelsmann werden allerorten gelobt für ihr Anliegen, Europa und das deutsche Volk mittels des Fußballfestes neu zusammenzuführen. Das war allerdings ein bisschen hoch gegriffen..
Rudi in Pink
Als Rudi Völler im Januar 2023 zum Sportdirektor der Nationalmannschaft ernannt wurde, jubelte der rechte Fußball-Stammtisch und träumte von einem politischen und kulturellen Rollback im „links-grün versifften“ DFB. Auch dank einiger populistischer Sprüche des Ex-Weltmeisters, der sich zum Einstand ohne Not robust zum Gendern, zu den Klimaklebern und natürlich zur Regenbogenbinde äußerte. Letztere wurde für das Scheitern bei der WM 2022 in Katar verantwortlich gemacht. „Die Krise des deutschen Fußballs ist eine Folge seiner Politisierung durch den DFB“, schrieb das AfD-nahe Magazin „Zuerst“.
Schon bald wich die anfängliche Begeisterung auf dem rechten Flügel einer gewissen Ernüchterung. Denn: Die Regenbogenbinde verschwand zwar, aber dafür gab es jetzt ein Auswärtstrikot in pink und lila. Im Netz jammerte mann, das Trikot sei „unmännlich“, „undeutsch“, „schwul“, Ausdruck einer „Woke-Idiotie“ etc. „Bild“-Kolumnist Franz-Josef Wagner war sich sicher: „Franz Beckenbauer hätte so etwas niemals angezogen.“
Rudi Völler hingegen fand das Trikot gut. Auch was das politische Engagement von Nationalspielern anbetraf, ruderte der Ex-Weltmeister etwas zurück. Völler im Interview mit dem Magazin „11 Freunde“: „Als ich Anfang der Achtziger in Bremen gespielt habe, erstarkte gerade die Friedensbewegung, die ich wohlwollend begleitet habe. Über so was muss ein Spieler nachdenken können.“ Man möge nur nicht übertreiben.
Dass Völler mit Andreas Rettig, dem als „links“ geltenden neuen DFB-Geschäftsführer Sport, ein Herz und eine Seele spielte, war ebenfalls eine Überraschung. Rettig hatte die Boykott-Kampagne gegen die WM in Katar mit Sympathie begleitet. Dem rechtspopulistischen Magazin „Tichys Einblick“ schwante anlässlich seiner Inthronisierung Schlimmes: „Beim DFB können sie auf den Fluren nun den linken Marsch des sowjetischen Revolutionsdichters Wladimir Majakowski anstimmen: ‚He, wer schreitet dort rechts aus? Links, links, links!‘“
Wer an Verschwörungstheorien glaubt, konnte ein abgekartetes Spiel ausmachen: Völler als Mann für den Stammtisch, der sich in den letzten Jahren abgekoppelt fühlte. Bundestrainer Julian Nagelsmann für taktisch modernen Fußball, der sich nicht mit den sogenannten deutschen Tugenden begnügt. Und Rettig für die Fans, für die Fußball mehr als nur ein 1:0 ist.
Abbild der Gesellschaft
Die öffentliche Umarmung der Nationalelf durch die Politik begann in der Bundesrepublik mit Verspätung. Das NS-Regime hatte die Politisierung des Sports diskreditiert. Hinter den Kulissen wurde sie natürlich trotzdem betrieben.
1984 war dann Helmut Kohl der erste deutsche Kanzler seit Adolf Hitler, der die Kabine der Nationalelf aufsuchte. Die vom CDU-Kanzler propagierte geistig-moralische Wende machte auch vor der Nationalelf nicht Halt: Vor Länderspielen sangen die aufgebotenen Spieler die Nationalhymne fortan mit. Vorher war das unüblich; selbst der selige Fritz Walter hat nie daran gedacht. Viele Linke und Alternative bestärkte Kohls penetrante Instrumentalisierung der Nationalmannschaft darin, dass man vom liebsten Kind der Mitbürger lieber die Finger lässt.
Seither hat sich im Verhältnis von Linken und Rechten zur Nationalelf einiges gedreht. Das hängt eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. Die Nationalelf bildet heute eine Gesellschaft ab, die die Rechte bekämpft – eine Einwanderungsgesellschaft, in der Menschen mit Migrationsgeschichte ihren Platz haben. Im Umgang mit Inklusion und Diversität ist die Fußball-Nationalmannschaft vielleicht sogar weiter als große Teile der Gesellschaft. Beides bringt ihr auf Seiten der Linken Sympathiepunkte ein, während die Rechte diese Entwicklung mit Liebesentzug bestraft.
Schon vor der WM 2018 hatte die radikale Rechte der DFB-Elf ihre Unterstützung entzogen. Der Faschist Bernd Höcke befand, dass diese mittlerweile genauso „bunt“ sei wie alle erst- und zweitklassigen europäischen Vereinsmannschaften. Bis der Fußball „entneoliberalisiert“ und der DFB „wieder in patriotischer Hand“ sei, erfreue er sich „an den Restbeständen meiner alten Fußballwelt“. Höckes Sympathien galten den Isländern, vermutlich wegen ihres „arischen“ und „reinrassigen“ Erscheinungsbildes.
Als der Bundestrainer 2018 im zweiten Gruppenspiel gegen Schweden auf Mesut Özil verzichtete, postete Alice Weidel: „AfD wirkt!“. Was Weidel meinte, war, dass rassistisches Mobbing funktioniert.
AfD contra Zeitenwende – und contra Nationalmannschaft
Im Vorfeld der EM 2024 hoffte die Rechte auf eine Wiederholung des Özil-/Gündogan-Dramas von 2018 – mit ähnlichen Folgen für die sportliche Schlagkraft der Nationalelf wie damals. Dieses Mal war es kein Foto mit einem türkischen Autokraten, sondern eine Botschaft des schwarzen Innenverteidigers Antonio Rüdiger auf Instagram. Rüdiger wünschte seinen Followern einen frohen Ramadan. Ex-„Bild“-Chef Julian Reichelt entdeckte auf dem Foto eine angeblich islamistische Geste.
Das AfD-nahe Magazin „Zuerst“ beklagte eine „Afrikanisierung des heimischen Fußballs“. Die „heutige Multi-Kulti-Truppe mit einem ständig sinkenden Anteil Abstammungsdeutscher“ könne wohl nur „aus Ego-Gründen auf dem Turnierplatz stehen. Sie spielen jedenfalls nicht für Deutschlands Ehre.“ Ein solches Nationalteam wollen AfD und Co. scheitern sehen, um ihr rassistisches Narrativ besser untermauern zu können. Bei ihrer Genugtuung über die Niederlage der bunten DFB-Truppe im EM-Viertelfinale müssen die Rassisten allerdings mit der Tatsache zurechtkommen, dass die deutsche Elf von einer spanischen besiegt wurde, die im 16-jährigen Flüchtlingssohn Lamine Yamal einen der besten Spieler dieser EM besaß…
Reale Spaltung
Nach dem Desaster in Katar wurde die Entpolitisierung des Fußballs gefordert. Insbesondere von den Rechten, denen allerdings einzig und allein Richtung und Inhalt der Politisierung missfielen.
Doch dafür war es längst zu spät. „Es ist Zeit für eine Zeitenwende im deutschen Fußball und in der Gesellschaft", verkündete Philipp Lahm als Geschäftsführer der DFB Euro GmbH. Das Turnier müsse als „Wendepunkt" begriffen werden, „für Europa, für die Gesellschaft, für uns alle". Werte wie Demokratie und Freiheit, Vielfalt und Toleranz, Integration und Inklusion sollten gestärkt und gefeiert werden - die EM 2024 als Gegenentwurf zu Katar 2022.
Lahm hoffte auf ein Sommermärchen 2.0. Gleichzeitig sprach aus seinen Statements, dass auch ihm bewusst war, dass sich das Austragungsland seit 2006 extrem verändert hatte. Es spricht für die DFB-Elf, dass sie sich von der Erwartung, das Land mit begeisternden Darbietungen zu heilen und zusammenzuführen, nicht erdrücken ließ. Und auch nicht vom Hoffen der Rechten auf ein frühes Scheitern.
Aber die Spaltung der Gesellschaft ist real und lässt sich nicht wegmoderieren - auch nicht mit Hilfe schöner Fußballerlebnisse. Nagelsmanns Versuch, das deutsche Fußballvolk hinter der Nationalelf zu vereinen, wurde zwar vielfach gelobt, ist aber realitätsfremd. Vermutlich weiß er das selbst. Als der WDR eine Umfrage veröffentlichte, derzufolge sich 21 Prozent der Deutschen mehr Nationalspieler mit weißer Hautfarbe wünschen, ignorierte Nagelsmann das Ergebnis, ärgerte sich aber darüber, dass diese Umfrage überhaupt durchgeführt worden war.
In dem Versuch, politisch nicht weiter zu polarisieren und den Stammtisch zu vergrätzen, blieb der Bundestrainer in seinen Aussagen unbestimmt und widersprüchlich. Anders als sein ehemaliger Mentor Ralf Rangnick vermied er es, die AfD und den Rechtsextremismus beim Namen zu nennen.
„Tichys Einblick“ beließ es deshalb bei einer gelben Karte. Zumindest habe Nagelsmann „weder direkt noch indirekt zum ‚Kampf gegen Rechts‘ aufgefordert“. Der DFB und Rangnick wurden indes des Platzes verwiesen. Sie sollten es als Ehre betrachten.
Offener Brief an adidas
Die Sportartikelfirma adidas ist einer der Hauptsponsoren für die EM 2024. Das ist problematisch, da angezweifelt wird, dass adidas seine Lieferketten fair gestaltet hat und Menschenrechte eingehalten werden. Es gibt beispielsweise Berichte, dass Arbeiter*innen einiger Zulieferbetriebe wochenlang Überstunden leisten müssen, gesundheitliche Schäden durch mangelnden Arbeits- und Gesundheitsschutz erleiden, Hungerlöhne erhalten, unter zu hoher Arbeitslast arbeiten, weshalb Pausenzeiten oft nicht eingehalten werden, und ihre Jobs verlieren, sobald sie sich gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen wehren.
Aus diesem Grund hat die Organisation “WEED e.V. / Sport handelt fair” einen Offenen Brief mit zahlreichen konkreten Forderungen an adidas verfasst. Darin heißt es u.a.: „Zur EM 2024 wünschen wir uns von Ihnen Maßnahmen, mit denen Sie uns zeigen, dass adidas sich ernsthaft auf den Weg macht, Arbeiter*innenrechte und Nachhaltigkeit im gesamten Produktionsprozess umzusetzen.“ Dieser Brief wird von zahlreichen Gruppen unterstützt, beispielsweise dem Forum Fairer Handel, der Romero-Initiative oder dem Eine Welt Netz in NRW. Aus dem Fußball-/Fanbereich unterstützen bisher folgende Gruppen die Initiative: Fairness United, Schalker Fan-Initiative, FC Ente Bagdad, Gesellschaftsspiele e.V.
Bitte tragt diese wichtige Initiative über eure sozialen Medien weiter.
Den vollständigen Offenen Brief könnt ihr hier downloaden.
Zeit für eine Zeitenwende?
Zur Europameisterschaft 2024 in Deutschland
Philipp Lahm, Weltmeister-Kapitän von 2014 und Geschäftsführer der DFB Euro GmbH, fand große Worte: „Es ist Zeit für eine Zeitenwende im deutschen Fußball. Und in der Gesellschaft.“ So formulierte er es in einem Gastbeitrag für den „Kicker“ mit Blick auf die Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Dieses Turnier müsse als „Wendepunkt“ begriffen werden, „für Europa, für die Gesellschaft, für uns alle“. Das Turnier sei „ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein Wiedererstarken des europäischen Gedankens. Europa und seine wichtigen Werte wie Demokratie und Freiheit, Vielfalt und Toleranz, Integration und Inklusion sollen dabei gestärkt und gefeiert werden. Denn ein Ausgrenzen ist nicht das Modell des 21. Jahrhunderts in Europa.“
Und wie soll das gehen? Philipp Lahm: „Es braucht in der Gesellschaft – wie auch im Fußball – authentische Führungspersönlichkeiten und Vorbilder, die Menschen zusammenführen und ihnen Orientierung geben.“ Verzweifelt schrieb die BVB-Fanseite „schwatzgelb.de“ dazu: „Herrjemine, gibt es in den Redaktionsstuben des ‚Kickers‘ wirklich niemanden, der den Mut hat, Philipp Lahm zu sagen, was für einen pathetischen Stumpfsinn er da verbreitet? Es geht um Fußball. Um eine Europameisterschaft. Weder löst der Fußball irgendwelche gesellschaftlichen Probleme, noch hat er auch nur annähernd eine gleichartige Relevanz.“
Nostalgie ums „Sommermärchen“
Es ist wohl eher so, dass der Fußball gerne als Bühne für hehre Worte und Sonntagsreden benutzt wird. Das war auch bei der WM 2006 so, dem vielzitierten „Sommermärchen“, als „die Welt zu Gast bei Freunden“ war und dieser Welt demonstriert werden sollte, wie weltoffen, tolerant und liberal es hierzulande zugehe. In der Tat war das Ausland damals begeistert von den „neuen Deutschen“. „Alles in allem sind sie nicht so schlecht“, resümierte die „Times“. Der „Guardian“ attestierte dem Ausrichterland, dass es „in den vergangenen fünf Wochen eine unumkehrbare und grundlegende Veränderung durchgemacht“ habe. Nur die österreichische „Kronenzeitung“ befürchtete, die deutsche Weltoffenheit würde nicht von Dauer sein: „Sie werden statt Freunden zu Gast wieder zu viel Ausländer im Land haben.“ Prophetische Worte.
In Wahrheit war es mit dem „neuen Gesicht“ nicht so arg weit her. Denn nur bunt und weltoffen war das Sommermärchen nicht. In der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ gelangten der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer und sein Team zu dem Ergebnis, dass es rund um die WM zu einer Zunahme „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ gekommen sei. Im Osten Deutschland gab es auch 2006 schon „No-Go-Areas“, was aber für den ausländischen Besucher nicht spürbar war. Denn die einzige ostdeutsche Austragungsstadt war das weltoffene Leipzig.
Aber egal: Der Mythos ums „Sommermärchen“ von 2006 dient als Vorbild und Messlatte für die EM 2024. Auch, um die düsteren Seiten der deutschen Vergangenheit mal wieder ein bisschen zu entsorgen. Beispielsweise ließ sich Nürnbergs Zweite Bürgermeisterin Julia Lehner (CSU) kürzlich bei der Gala der Deutschen Akademie für Fußballkultur in Nürnberg so vernehmen: Sie hoffe, dass man bei der EM 2024 endlich wieder Nationalstolz zeigen könnte, so wie im Sommer 2006. Lehner riet den Anwesenden: „Nicht immer auf das 20. Jahrhundert gucken.“ Sie meinte damit die NS-Zeit und sagte das ausgerechnet auf einer Veranstaltung, bei der unter anderem das aktuelle Engagement von Fangruppen gegen Rassismus und Antisemitismus geehrt wurde. Die waren kurz davor, aus Protest den Saal zu verlassen.
Eine neue Realität
Ein neues „Sommermärchen“, eine „Zeitenwende“ durch die EM – das klingt seltsam überambitioniert und damit unernst. Denn seit 2006 hat sich das Land verändert, Europa ebenfalls, beides nicht zum Guten. Im Sommer 2006 gab es noch keine rechtsextreme Partei im Bundestag, die aktuell in der Wählergunst auf Platz zwei liegt. Europa wirkte noch geeinter und demokratischer als heute. Großbritannien war noch in der EU, in Polen und Ungarn herrschten noch Rechtsstaat und Gewaltenteilung, Italien wurde noch nicht von einer „Postfaschistin“ regiert. Russland hatte noch nicht die Krim besetzt und die Ukraine überfallen. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wurde noch nicht auf deutschen Straßen ausgetragen, Antisemitismus wucherte noch mehr im Verborgenen. Und bis zum Ausbruch der „Flüchtlingskrise“ waren es noch einige Jahre. Inzwischen ertrinken jährlich Tausende von Flüchtlingen an der Außengrenze Europas, während die europäische Einigkeit vor allem in dem Willen besteht, diese Grenzen noch unüberwindbarer, noch tödlicher auszubauen.
Dass das Europa von damals nicht mehr das Europa von heute ist, deutete sich erstmals bei der EM 2016 an, als russische Hooligans in Marseille englische Bierbäuche verprügelten. Die durchtrainierten Burschen genossen die Unterstützung von Teilen der russischen Politik und des russischen Fußballverbands. Für Igor Lebedew, damals stellvertretender Präsidenten des russischen Parlaments und Mitglied im Vorstand des russischen Fußballverbands, hatten die Hooligans „die Ehre ihres Landes verteidigt und es den englischen Fans nicht gestattet, unser Land zu entweihen“. Lebedew wollte dem Westen vorführen, wie wehrlos, verweichlicht und schwul seine multikulturellen und liberalen Gesellschaften sind.
Dazu passte auch ein Statement von Vladimir Markin, Leiter der Presseabteilung des einflussreichen Ermittlungskomitees der russischen Föderation, einer mit dem US-amerikanischen FBI vergleichbaren Behörde. Das Problem der französischen Polizisten sei, dass sie überrascht wären, wenn sie auf einen Mann träfen, der so aussieht, wie ein Mann aussehen sollte. Die Polizisten seien einfach zu sehr an schwule Mannsbilder gewöhnt – wegen der vielen Schwulen-Paraden in Frankreich.
Ein Turnier später verhinderte die UEFA, dass beim Spiel Deutschland gegen Ungarn die Münchener Arena in den Farben des Regenbogens erstrahlte – ein Kotau vor dem Partner und Autokraten Viktor Orbán, dessen Politik auf fünf Säulen steht: Nationalismus, christlicher Fundamentalismus (einschließlich Homophobie), Rassismus, Korruption und Fußball. Seit 2016 ist die EM auch ein Spielfeld im Kulturkrieg zwischen antiliberalen Autokraten und den Befürwortern der liberalen Demokratie.
Kampfansage statt Sprechblasen
Philipp Lahm sagt zu den gesellschaftlichen Umbrüchen: Die vergangenen Jahre waren „weltweit geprägt von extremen Veränderungen und ständiger Unruhe“. Das ist so richtig wie nichtssagend. „Zusammenhalt statt Selbstüberhöhung“, fordert er als Medizin. Mal abgesehen davon, dass „Selbstüberhöhung“ in Wahrheit zum Markenkern des Profifußballs zählt: Der „Zusammenhalt“, der Fußball in den Stadien scheinbar schafft (jedenfalls unter den Fans eines Vereins), hat mit den gesellschaftlichen Realitäten nichts zu tun. Mit dem Faschisten Björn Höcke, der im Herbst 2024 womöglich neuer Ministerpräsident von Thüringen wird, darf es keinen „Zusammenhalt“ geben. Höcke pöbelt gegen die „dämliche Bewältigungspolitik“ zu Deutschlands NS-Vergangenheit, sein Parteifreund Gauland nannte sie einen „Vogelschiss“. Die Mahnung der freundlichen CSU-Frau Lehner, bei der EM solle man „nicht immer aufs 20. Jahrhundert gucken“, sondern „Nationalstolz“ zeigen, dürfte den AfD’ler aus der Seele sprechen. Das wäre dann der „Zusammenhalt“, den wir heute genau nicht brauchen.
Philipp Lahms Europa gibt es nicht. Was „europäische Werte“ sind, darüber existieren fundamental unterschiedliche Meinungen. Wenn Lahm das Turnier dazu nutzen will, demokratische und liberale Werte hochzuhalten, ist das lobenswert. Nur muss ihm klar sein, dass dies nur Sinn macht, wenn man es als innenpolitische und innereuropäische Kampfansage versteht.